Seine Finger fliegen über die Tasten des weissen Steinway-Flügels. Immer wieder repetiert Christian Wenk eine komplexe Passage in Max Bruchs «Konzert für zwei Klaviere und Orchester, op. 88a». In der Stube seiner Wohnung in Eich LU übt er für die drei Konzerte, die er mit der ebenfalls querschnittgelähmten Pianistin Elina Kaikova (41) geben wird. «Dann muss alles stimmen. Ich bin ein Perfektionist», sagt der 50-Jährige, nachdem er das Mundstück der Pedalsteuerung auf seinen Schoss gelegt hat. Das System ist einfach: Beisst Wenk auf das Mundstück, bedient er damit das Haltepedal des Flügels. «Anders geht das bei mir nicht.» Er lacht und flitzt mit seinem Rollstuhl an den Esstisch, wo seine Freundin Selma Hädrich (44) Spaghetti bolognese auftischt.
Das Leben von Christian Wenk ist reich an Schicksalsschlägen. Der erste widerfährt ihm im September 2000. Damals ist er 26 Jahre alt, Medizinstudent, ausgebildeter Pianist und einer der weltbesten Duathleten. In Japan trainiert er mit seinem Rennvelo für die Duathlon-WM: Mit 70 Stundenkilometern rauscht er eine Bergstrasse runter. Doch ausgangs einer unübersichtlichen Kurve steht ein abgestelltes Auto auf der Fahrbahn – die Kollision ist fürchterlich! Tags darauf kommt Wenk im Spital wieder zu Bewusstsein, drei Wochen schwebt er in Lebensgefahr. Die Wirbelsäule ist gebrochen, vom zweiten Brustwirbel an abwärts ist er gelähmt: Bewusst steuern kann er noch den Kopf, die Arme und seine Hände.
Unbeugsamer Tausendsassa
Er ist ein Kämpfer! In den folgenden Jahren führt er sein Medizinstudium zu Ende, entwickelt mit einem ETH-Elektroingenieur die mundgesteuerte Bedienung der Klavierpedale. Er heiratet, feiert als Trainer der Schweizer Handbike-Nationalmannschaft Olympiasiege, tritt in renommierten Sälen als Konzertpianist auf, wird 2009 am World Economic Forum in Davos zum Young Global Leader ernannt. Er gründet eine Stiftung, die in Afghanistan und Myanmar Schulen baut. Nach der Facharztausbildung und fünfjähriger Tätigkeit als Oberarzt führt er als Allgemeinmediziner seit zehn Jahren eine erfolgreiche Hausarztpraxis in Schenkon LU.
Doch nicht alles läuft glatt. 2014 geht die Ehe in Brüche. «Ich flüchtete in die Arbeit, verlor das innere Gleichgewicht, bekam gesundheitliche Probleme.» Im September 2017 folgt der zweite schwere Unfall: Wenk stürzt aus dem Rollstuhl, zieht sich beidseits eine Oberschenkelhalsfraktur zu. Er bekommt künstliche Hüftgelenke. Doch bei den Prothesen bilden sich Infektionen, die Hüften werden steif. Weil er nichts spürt, bricht die Wirbelsäule langsam aus dem Becken heraus. «Ich habe mehr im Rollstuhl liegend als sitzend gearbeitet.» Tiefe Druckgeschwüre am Gesäss führen zu einer lebensgefährlichen Blutvergiftung. «Im Sommer 2018 nahm ich Abschied von meinen Eltern und Geschwistern.» Sein unbeugsamer Wille und 41 Operationen in drei Jahren – darunter die Amputation beider Unterschenkel – retten ihm erneut das Leben.
Nach einer Operation lernt Wenk im Mai 2019 Intensiv-Pflegefachfrau Selma Hädrich kennen. Am Tag nach seinem Spitalaustritt ruft er sie an: «Mir geht es gut. Lass uns mal ein Treffen arrangieren!» Zwei Monate später zieht sie bei ihm ein. «Ich bewundere, wie Christian sein Ding macht.»
Grenzen neu ausloten
Seine Woche habe nicht 40, sondern 168 Stunden, sagt Wenk. Tagsüber arbeitet er in seiner Praxis, daheim angekommen, spielt er Klavier. «Musik ist für mich ein wichtiger meditativer Ausgleich.» Regelmässig kurbelt er auf seinem Handbike, das in der Stube installiert ist. «Ich wollte immer das Beste aus mir herausholen.» 26 000 Kilometer hat er in den letzten zwei Jahren mit seinen Handbikes abgespult, Pässe hinunter brettert er schon mal mit 100 km/h. Bei Trainingslagern auf Lanzarote und Mallorca war auch seine Freundin dabei. Die passionierte Rennvelofahrerin: «Auf ebener Strecke hatte ich Mühe mitzuhalten. Dank Christian lote ich meine Grenzen neu aus.»
Kinder haben? «Theoretisch möglich», sagt Wenk, «doch es geht gut ohne.» Selma nickt. Wenks Philosophie ist klar: «Man kann so vieles erreichen, auch mit eingeschränkten Möglichkeiten. Und: Sei dankbar! Das Glas ist immer fast voll.» Dieses Credo vermittelt er auch bei seinen Auftritten. Kürzlich sprach er vor Stadtzürcher Rotariern. SRF-Direktorin Nathalie Wappler hatte ihn als Gastreferenten eingeladen. «Meine Geschichte macht mich zu dem, der ich bin. Ich bin glücklich und zufrieden.» Etwas Wichtiges habe er gelernt in seinem Leben – es steht auf einem Bild in seiner Praxis. Selma hat es gestaltet, aus Metallteilen, die in Wenks Körper waren: Hüftprothese, unzählige Stäbe und Schrauben. Mittendrin hat sie seinen Leitsatz geschrieben: «Jeder Tag ist ein Geschenk!»
Benefinzkonzerte mit dem Sinfonieorchester Nota bene: 24. Februar in Nottwil LU, 25. Februar im Stadtcasino Basel, 3. März in der Tonhalle Zürich. Der Erlös in Basel und Zürich kommt einem Spital in Uganda zugute. Infos: Nota-Bene.ch