Die paar Minuten, in denen sich vergangenen Samstag auf dem Männlichen ob Grindelwald BE die Sonne zeigt, kann Joya Marleen nicht geniessen. Sie sitzt gerade in der Gondelbahn und schaut ziemlich verkrampft aus dem Fenster. «Ich hab massive Höhenangst», gesteht sie. Und das, obwohl sie früher Turmspringen betrieben hat. «Da springt man selbst und weiss, wo man landet», sagt die junge Musikerin.
Wie hoch sie dereinst in ihrer Karriere springen würde, hätte die St. Gallerin kaum gedacht, als sie mit 14 erstmals einen selbst komponierten Song auf dem Musik-Streamingdienst Spotify veröffentlicht. Aufgewachsen in einer musikbegeisterten Familie – sowohl der Vater als auch der ältere Bruder haben je eine Band –, spielt Joya Schedler, so ihr richtiger Name, schon als Kind Gitarre. Wenig später nimmt sie dann Gesangsunterricht, fängt an, eigene Songs zu schreiben. «Ziemlich schlechte, am Anfang», meint sie kichernd.
Was Joya damals auf Spotify lädt, kann so schlecht nicht sein. Immerhin werden diverse Musiker auf sie aufmerksam und verpflichten die Schülerin für ihr Vorprogramm. Unter ihnen das Westschweizer Pop-Duo Carrousel, von dessen einer Hälfte, Leonard Goignat, Joya unter die Management-Fittiche genommen wird. Er macht sie mit Thomas Fessler bekannt, einem der erfolgreichsten Schweizer Produzenten, der mit Grössen wie Michael von der Heide, Sina oder Pippo Pollina zusammenarbeitet. Jetzt muss Joya ihren ersten Sprung wagen. Und das tut sie.
Mit einem Albtraum in die Charts
Erleichtert hüpft der Teenager aus der Männlichen-Gondel. Die Sonne hat sich längst wieder verzogen, und die Bise bläst den Ankömmlingen ziemlich fies um die Ohren. Wenig später klingt es im improvisierten Backstage-Bereich des Snowpenair wie auf einem Basar: «Braucht jemand noch lange Unterwäsche?» – «Ich hätte noch einen Schal.» – «Hast du Handschuhe?» Joya tritt aus der Garderobe in ihrem aktuellen Lieblingsstück, einem Fake- Leder-Mantel in Schlangenmuster-Optik: «Ich habe ihn während einer Reise auf einem Markt in London gekauft.» Den Blick auf ihre sommerlichen Sneaker und die blutten Knöchel – der Albtraum jeder Teenie-Mutter – kommentiert sie mit einem breiten Grinsen.
Es ist ebenfalls ein Albtraum, der Joya eine musikalische Flughöhe beschert, von der sie nicht zu träumen gewagt hat. Der Song «Nightmare» wird an den Radios rauf- und runtergespielt, und hält sich 25 Wochen lang in der Hitparade. Es ist die erste Single, die sie unter dem Namen Joya Marleen veröffentlicht. Marlene ist der Name ihres Grosis und der zweite Vorname ihrer Mutter. «Die beiden sind meine Vorbilder, zwei ganz taffe Frauen. Da meine Eltern es verpasst haben, mich zur dritten Marlene im Bunde zu machen, hab ich mir den Namen halt selbst geholt», meint Joya lachend.
«Showtime in 15 Minuten», erklingt hinter der Bühne die Durchsage. Instrumente werden hektisch auf- und abgebaut. Vor der Bühne warten über 6000 Fans im eiskalten Schneegestöber auf Joya Marleens Auftritt. Mitten im Gewusel steht die 19-Jährige tiefenentspannt hinter dem Vorhang. Die Band spielt die ersten Takte von «Running in My Mind». Joya stürmt die Bühne, als würde sie seit 20 Jahren nichts anderes tun. Die Menge jubelt. «Am Anfang wars ein bisschen verhalten», sagt sie später. Der Anfang dauert nur bis zum ersten Refrain, denn da singen schon alle mit. «I’m running in my mind, ra-da-da, ra-da-da.»
Zwischen Matura und Musik
Dass ihre Musik pausenlos an den Radios läuft, bekommt Joya im ersten Halbjahr 2022 nur am Rande mit. Sie steht zwar immer wieder mal auf der Bühne und geht als Opening Act mit Hecht auf Tour. Aber hauptsächlich büffelt sie für die Matura. «Ich war keine Sechser-Schülerin, die ohne Lernen durchspaziert. Meine Eltern haben mich immer krass unterstützt beim Musikmachen, aber die Matura musste ich abschliessen.» Dass sie zu dieser Zeit für drei (!) Swiss Music Awards nominiert ist, nimmt Joya Marleen mit Erstaunen zur Kenntnis. Am 25. Mai 2022 ist der letzte Schultag. Am gleichen Abend sagt Joya Marleen «affegeil», als sie bei der Musikverleihung den ersten Award als «Best Female Act» abholt, «crazy» über jenen als «SRF 3 Best Talent» und «i glaub, i fress en Bäse», als «Nightmare» zum «Best Hit» gekürt wird. Am Montag danach legt sie ihre Maturaprüfungen ab. Sie besteht. «Endlich bin ich frei für die Musik!»
Plattenvertrag in Deutschland
«Geil, aber arschkalt» seis gewesen, sagt Joya, als sie von der Bühne kommt und direkt für ein Foto posiert – als wäre sie ein Medienprofi. Ist sie aber nicht. Bisher wird sie stark abgeschirmt, gibt nur vereinzelt Interviews. Zum Beispiel im Umfeld der TV-Show «Sing meinen Song», bei der sie derzeit neben «alten Hasen» wie Baschi oder Peter Reber zu sehen und zu hören ist. «Als die Anfrage kam, hab ich mich schon gefragt, ob ich das kann», sagt sie. «Aber ich bin froh, hab ich zugesagt. Ich lernte so tolle Leute kennen.»
Gerade hat Joya Marleen einen Plattenvertrag mit Sony Music Deutschland unterschrieben. Dieses Jahr spielt sie nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Deutschland, Holland und Belgien. Hat sie manchmal Angst vor der Fallhöhe, auf die sie sich begeben hat? «Ja, so eine Sekunde am Tag. Den Rest der Zeit find ichs einfach nur geil.» Ausserdem, sagt Joya und trippelt in ihren Sneakern über den Schnee, dürfe sie auch Fehler machen. Mutig gesprungen ist sie ja bereits – fragt sich höchstens, wo sie noch landet.