Montagmorgen bei Isla Victoria, der Beratungsstelle für Sexarbeitende im Zürcher Langstrassenquartier. Immer wieder läutet die Klingel, obwohl am Eingang gross steht, dass erst ab elf Uhr offen ist. Aber manche Frauen können nicht lesen. Andere kennen kein «offen» oder «geschlossen», arbeiten sie doch selbst rund um die Uhr. Doch herein wollen sie alle: weil sie unter ihrer leichten Kleidung schwer zu tragen haben.
Aniko, 36, gemustertes Schlauchkleid, schwarzer Dutt und eine Stimme wie eine heisere Bassgeige, gehört zu den Ersten, die an diesem Morgen hereinstürmen. Sie ist müde vom Rumstehen, auf der Strasse und dem Strichplatz. Die Kunden fehlen, vielleicht die Sommerferien oder die Fussball-EM. «Scheisse ist das!», ruft sie. Keine Arbeit bedeutet kein Geld. Und Geld ist, was ihre zehnköpfige Familie in Ungarn dringend benötigt. Darum pendelt Aniko seit neun Jahren zwischen ihrer Heimat und Zürich, einen halben Monat dort, einen halben hier. Sie hat in der Schweiz eine B-Aufenthaltsbewilligung, ihr Zimmer kostet 80 Franken pro Tag. «Gott hat mir diese Figur gegeben, also arbeite ich, bis ich nicht mehr kann», sagt sie und lacht spöttisch. Dann ballt sie die Fäuste vor ihrer Brust: «Aber mein Herz ist kalt.»
Ein anderer Montag am Rande von Winterthur, ein unauffälliges Gebäude, nicht weit von der Autobahn. Hier befindet sich das Erotikstudio von Justine, 40, und Amelie, 36, ein sorgfältig eingerichtetes Zimmer mit Küchenzeile, Dusche, einem grossen Bett, Peitschen und Fesselvorrichtungen. Justine trägt Glatze, Piercings und ein bodenlanges Kleid mit Spitzen.
Amelie erscheint im lockeren Hemd, darunter ein Badeanzug. Sie will später noch rüber in die Töss, schwimmen mit Baby-Bulldogge Abigail. «Ich kann mir meine Arbeit frei einteilen, das gefällt mir», sagt die Ostschweizerin, deren Familie nichts von ihrem Job weiss. Justine nickt: «Wir lieben, was wir machen, auch wenn man uns das oft nicht glaubt.» Die gebürtige Deutsche hat ursprünglich Make-up-Artistin gelernt. Über ihren Ex-Mann gelangte sie ins Sadomaso-Gewerbe, fand Gefallen an Lack und Leder, an Fesselspielen und Fetischfantasien. Männer kommen zu ihr, weil sie geschlagen werden wollen. Oder dann Prinzessin spielen.
Zwei Schauplätze mit Sexarbeiterinnen, die unterschiedlicher nicht sein könnten – und genau deshalb typisch sind für dieses Gewerbe. Weil die Prostitution ein Potpourri aus Biografien und Lebensgeschichten ist. In der Schweiz prostituieren sich zwischen 13 000 und 25 000 Menschen – 95 Prozent sind weiblich, über drei Viertel kommen aus dem Ausland. Gemeinsam ist ihnen, dass sie eine Arbeit ausüben, die in der Schweiz seit 1942 legal, aber bis heute stigmatisiert ist. Und dass sie von den Corona-Massnahmen besonders betroffen waren. Wegen der Pandemie herrschte in Zürich über ein halbes Jahr lang ein Prostitutionsverbot. Beatrice Bänninger, die Geschäftsführerin von Isla Victoria, sitzt im engen Medizinraum in der Beratungsstelle, weils dort gerade am ruhigsten ist, und sagt: «Die Nachfrage nach Sex ist geblieben, Verbot hin oder her. Menschen arbeiten einfach weiter. Und sie arbeiten unter viel unsichereren Bedingungen.»
Aniko hat einen Stapel Busszettel mitgebracht, blättert überfordert darin. Die Polizei hat sie mehrmals erwischt, als sie trotz Arbeitsverbot mit einem Kunden mitging. «Aber was sollte ich tun?», fragt sie. «Ich brauchte das Geld.» Und weil ihr Job illegal war, musste sie sich viel mehr bieten lassen. «Manche wollten, dass ich es für 50 Franken ohne Gummi mache, ich meine, gehts noch?» Andere drohten mit Gewalt oder nahmen ihr das Geld wieder weg. Auch Justine und Amelie haben trotz Verbot gearbeitet. Im Wissen darum, dass die Polizei auch verdeckt ermittelt – «das hat uns psychisch an den Rand gebracht». Aber sie mussten Fixkosten von mehreren Tausend Franken im Monat decken. Beide sind Selbstständigerwerbende, bezahlen Steuern und Sozialabgaben. Aber weder konnten sie Kurzarbeit anmelden, noch erhielten sie eine Lohnausfallentschädigung.
«Der Staat hat uns vergessen», sagt Justine und setzt an zu einer feurigen Verteidigungsrede ihres Gewerbes. Sie fordert «eine Nuttengewerkschaft», einen Verband, der sich für die Rechte der Sexarbeiterinnen einsetze – so wie ihn etwa die Gastronomie habe. «Sexarbeit ist eine Arbeit wie jede andere», sagt sie, «darum wollen wir auch gleich behandelt werden.» Justine möchte ein Bankkonto eröffnen können. Einen Kredit beantragen. Im Lebenslauf ihren richtigen Beruf angeben. Beatrice Bänninger von Isla Victoria würde nur den zweiten Teil von Justines Satz unterschreiben. Sexarbeit, sagt sie, sei zu persönlich, als dass man diesen Job mit anderen vergleichen könne. Aber wer sich freiwillig dafür entscheide, solle unter menschenwürdigen Bedingungen arbeiten können und gleiche Rechte haben wie alle anderen. Sei Zwang im Spiel, spreche man nicht von Sexarbeit, sondern von Menschenhandel.
Die liberale Gesetzeslage in der Schweiz erfährt auch Kritik. Organisationen wie die Frauenzentrale in Zürich fordern ein Sexkaufverbot, wie es in Schweden bereits seit 1999 existiert. Dieses sogenannte «schwedische Modell», das etwa Island, Frankreich und Kanada anwenden, sieht vor, dass Sexarbeitende zwar sexuelle Dienstleistungen anbieten dürfen, aber ihre Kunden machen sich beim Kauf strafbar.
Für die 60-jährige Abla aus Kamerun stellt die Sexarbeit die beste Option unter schlechten dar. «Ich könnte auch putzen», sagt sie, «aber mit 25 Franken pro Stunde ernährst du keine Grossfamilie.» Abla ist bei Isla Victoria, um überschüssige Lebensmittel abzuholen, die dort zum Mitnehmen bereitstehen. Als sie 2005 von Afrika nach Zürich kam, suchte sie vergeblich nach dem «schönen Leben». Sie habe rasch gemerkt: «Hier ist es genauso hart wie in Afrika.» In einer Bauernfamilie aufgewachsen, musste sie schon als Mädchen viel arbeiten. «Aber ich bin gesund, mehr geht nicht», sagt sie und greift nach einem Bündel mit Avocados. «Gut für die Haut», sagt sie. Wenn sie nochmals von vorne anfangen könnte, sagt Abla, dann würde sie gern Confiseurin lernen. «Ich backe so gern.»
Amelie aus Winterthur hat in den 15 Jahren, in denen sie im Erotikgewerbe tätig ist, schon oft Heiratsanträge bekommen. Männer, die sie «retten» wollten. «Ich verdiene gleich viel wie in einer besseren Position im Büro – warum sollte ich etwas anderes machen?» Sie knabbert an einer Yogurette. Dann schiebt sie nach: «Ausserdem habe ich das Glück, einen Mann zu haben.» Als sie sich kennenlernten, fragt er sie: «Kannst du nicht aufhören – für mich?» Aber Amelie wollte nicht. Auch Aniko, die Ungarin bei Isla Victoria, denkt nicht ans Aufhören. Nicht weil sie nicht möchte. Vielmehr ist der Ausstieg für sie weit weg vom Vorstellbaren. Auf die Frage, ob sie, die Frau mit dem kalten Herzen, die Liebe aufgegeben habe, sagt sie: «Ich liebe meine Familie, aber das Leben ist besser ohne Männer.»
Die Namen der Sexarbeiterinnen sind alle geändert – bis auf Justine, die ihren Arbeitsnamen preisgegeben hat. Alter und Herkunft aller Beteiligten sind unverfälscht.
Für ihr Buch «Piff, Paff, Puff» hat die Journalistin Aline Wüst zwei Jahre lang im Schweizer Rotlichtmilieu recherchiert, mit Prostituierten und Freiern gesprochen. Ihr Fazit: «Viele Frauen werden ausgebeutet.»
Aline Wüst, was hat Sie bei Ihren Recherchen am meisten erstaunt?
Dass das Sexgewerbe systematisch von der Not und der Verletzlichkeit junger Frauen profitiert.
Sie erzählen vor allem von Gewalt, Ausbeutung und Menschenhandel. Sind Prostituierte allesamt Opfer?
Nein, das würde ich nicht sagen. Die Geschichten, warum jemand in die Prostitution gerät, sind sehr unterschiedlich. Aber Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung sind häufig, und die Ausbeutung durch einen Loverboy-Zuhälter ist mir sehr oft begegnet.
Wie arbeiten Loverboys?
Oft haben sie es auf Mädchen abgesehen, die als Kind wenig Geborgenheit erlebten, aber dafür viel Vernachlässigung. Ihnen spielen sie die grosse Liebe vor. Dann brauchen sie aus einem erfundenen Grund Geld und lassen die Frau anschaffen. Sie machts – aus Liebe. Wenn die Frauen herausfinden, dass sie ausgebeutet wurden, zerbrechen sie oft daran. Und doch gibt es Frauen, die sagen: «Ich liebe diese Arbeit.»
Glauben Sie Ihnen?
Ich spreche niemandem seine Empfindung ab, das ist mir wichtig. Aber ich habe kaum eine Frau getroffen, die mir nicht gesagt hat, wenn sie könnte, würde sie aussteigen.
Ist Sexarbeit eine normale Arbeit?
Indem wir als Gesellschaft sagen, Sexarbeit sei eine normale Arbeit, bringen wir die grosse Mehrheit der betroffenen Frauen zum Schweigen. Weil sie es eben nicht als normale Arbeit empfinden und so das Gefühl bekommen, mit ihnen stimme etwas nicht. Ich verstehe die eigentlich gute Absicht, durch die Normalisierung der Prostitution die Frauen vor Stigmatisierung zu schützen. Doch die allermeisten Frauen wünschen sich ja, dass sie sich gar nicht prostituieren müssten, um zu überleben. Da müssen wir ansetzen.
Was braucht es von der Gesellschaft?
Gestern sagte mir eine Schweizerin, die etwa 50 ist: «Mich hat die Prostitution körperlich und seelisch kaputtgemacht.» Wir müssen das ernst nehmen! Wer aussteigen will, soll aussteigen können. Und die Freier müssen sich bewusst sein: Sie setzen ihr Bedürfnis nach Sex über das Leben und die Träume dieser Frauen.