Ein wahres Luxusproblem: zwei grosse, 556 und 550 Gramm schwere Medaillen um den Hals. Eine goldene, eine silberne. «Es ist nicht einfach, so rumzulaufen. Sie schlagen immer gegeneinander und sind darum schon etwas zerkratzt», sagt Tennisspielerin Belinda Bencic und muss dabei selber lachen. «Es gibt Schlimmeres, ich weiss.» Olympiagold im Einzel, Olympiasilber im Doppel. Es sind Bencics wichtigste Errungenschaften ihrer bisherigen Karriere. «Und wahrscheinlich sportlich das Grösste, was ich überhaupt je erleben werde», sagt die 24-Jährige.
Sie ist hoch oben angekommen. In Tokio auf dem Olymp. Und nun auch auf dem Bürgenberg, um nach Triumph und Rummel einige gemütliche Tage im Bürgenstock Resort zu verbringen. An dem Ort, wo sie bereits vor ihrer Abreise Kraft getankt hat. «Hier fällt einem das Relaxen leicht», sagt Bencic und geniesst die Weitsicht über den Vierwaldstättersee. Nur das Zirpen der Grillen durchbricht die Stille, der dunstige Blick bis hin zum Pilatus wirkt beruhigend, und die kühle Brise nach dem «Ofen von Tokio», wie Bencic es beschreibt, ist eine willkommene Erfrischung. «Wir freuen uns, nach der ganzen Aufregung etwas Ruhe und Zweisamkeit zu haben», sagt Bencics Freund und Fitnesstrainer Martin Hromkovic, 39.
Ganz ohne Termine sind die Tage für das Paar zwar nicht. Die Verpflichtungen einer Olympiasiegerin rufen. Bencic nimmts gelassen, scheint immer wieder eine Extrabatterie anzapfen zu können. Man sieht ihr die körperlichen Strapazen nicht an. «Mental bin ich noch immer im Hoch, surfe einfach auf dieser Welle», sagt sie. «Doch körperlich bin ich sehr, sehr müde.» Und erzählt von einem kleinen Zusammenbruch nach dem Einzelfinal.
Von Beinen, die sie wegen Krämpfen fast nicht mehr ins olympische Dorf in ihr Bett tragen. Kein Wunder: Es ist ein Mammutprogramm, das die Ostschweizerin an Olympia stemmt. Weil es im Einzel und im Doppel mit Partnerin Viktorija Golubic, 28, so gut läuft, spielt sie in neun Tagen elf Matches, kämpft fast 20 Stunden auf dem Court. Das Stadion, der Ariake Tennis Park, ist zwar leer. Doch Bencic begeistert die Zuschauer vor dem TV. Sie spielt sich mit ihrem Kampfgeist in die Herzen der Fans. Und berührt mit ihren Emotionen: Jubel, Freudentränen, Fassungslosigkeit.
Sie unterlässt es auch in keinem Interview, den Menschen zu danken, die sie auf ihrem Weg begleitet haben: ihre Eltern Dana und Ivan, Bruder Brian, ihr Freund, ihr Trainer Sebastian Sachs, ihre erste Trainerin Melanie Molitor, die Mutter von Martina Hingis. Immer wieder dankt Bencic auch Doppelpartnerin Viktorija Golubic, mit der sie seit Langem befreundet ist. «Vicki ist eine Riesenkämpferin. Sie hat mich auf dem Platz mitgerissen und als Einspielpartnerin und Zuschauerin für meine Spiele unterstützt.» Aus Bencic spricht auch Demut, wenn sie kurz nach ihrem grössten Triumph in Tokio sagt: «Es ist unbeschreiblich schön. Aber ich weiss, dass ich auch ohne diese Medaille glücklich wäre.»
Ihre Karriere ist von vielen Hochs und Tiefs geprägt. In ihren 24 Jahren hat sie schon mehr erlebt als manch eine in der gesamten Karriere. Belinda gilt hierzulande früh als Supertalent, die internationalen Erfolge lassen nicht lange auf sich warten: Als 17-Jährige schafft sie es in die Viertelfinals der US Open, mit 18 Jahren steht sie auf Rang sieben der Weltrangliste. Dann folgt der Absturz – bis auf den 318. Platz.
Es sind Verletzungen und eine Hand-OP, die Bencic zurückwerfen. Es ist auch das Erwachsenwerden und die Suche nach sich selber – als Mensch und als Sportlerin –, welche keine gradlinigen Prozesse sind: Gewichtszunahme, Trainerwechsel, Abnabelung von Vater Ivan, der jahrelang ihr Trainer war und es auch heute wieder ist.
«Manchmal reicht nur ein Blick zu Martin, und ich fange mich wieder. Zum Glück weiss er, dass ich nur auf dem Tennisplatz ‹toibele›»
Belinda Bencic
Die Krisen haben ihren Blick aufs Leben verändert. «Früher dachte ich, zuerst kommt das Tennis – danach fange ich an zu leben. Heute kann ich alles verbinden.» Konkret: «Da ich praktisch das ganze Jahr fürs Tennis unterwegs bin, gehe ich während der Turniere auch mal an ein Konzert, auswärts essen, shoppen oder die Stadt anschauen.» An Olympia ist dies zwar aufgrund der Covid-Einschränkungen nicht möglich, dennoch saugt Bencic alles auf.
«Nur schon im Frühstücksraum zu sitzen, alle Athleten zu beobachten und mit ihnen zu reden, war ein Highlight.» Sie vergleicht die Reizflut im Olympiadorf mit der Stadt New York: «Für die einen ist es zu viel, ich liebe und brauche es!»
Einen grossen Anteil an Bencics neuem Lebenswandel und ihrem Erfolg hat Martin Hromkovic. Seit 2018 ist er ihr Fitnesstrainer, wenig später werden die beiden auch privat ein Paar. Hromkovic macht seine Freundin körperlich so fit wie nie. Und er begleitet sie fast immer an die Turniere. Er ist der sichere Wert in ihrem turbulenten Alltag, der ruhende Pol, der ihre aufbrausende Art ausgleicht. «Manchmal reicht nur ein Blick zu Martin, und ich fange mich wieder. Und er weiss zum Glück, dass ich nur auf dem Tennisplatz ‹toibele›.»
Er ist der, der Anfang Jahr bei den Australian Open die zweiwöchige Isolation in einem Hotelzimmer für sie erträglich macht. «Dass wir uns dort nie auf die Nerven gingen, ist der endgültige Beweis, dass wir einfach perfekt zusammenpassen», sagt Bencic und lacht. Ihr Partner lobt sie als Musterathletin: «Sie ist der Traum für einen Trainer. Sie hat einfach alles: Kraft, Ausdauer – und sie kann beissen.» Er erzählt auch von den Emotionen in Tokio: «Ich bin zwar nach aussen immer sehr ruhig. Aber in mir drin brodelte es.» Öffentliche Liebesbekundungen meidet er jedoch. Etwas darf auch bei einer Olympiasiegerin Privatsache bleiben. Sein Stolz ist trotzdem spürbar. Und die verliebten Blicke und die neckischen Sprüche, während die beiden über die Wiese schlendern, sagen ohnehin mehr als genug.
Belinda Bencic ist angekommen – sportlich wie privat. Da ändert auch nichts daran, dass sie bereits wieder kurz vor dem Abflug ist: In den USA stehen das WTA-Turnier in Cincinati und dann die US Open an. Sie sieht den Turnieren und der neuen Situation, dass sie jetzt nie mehr als Aussenseiterin antreten kann, gelassen entgegen. «Ich habe, wovon ich geträumt habe. Ich fühle mich befreit für alles, was kommt.» Was sind schon einige Kratzer in den Medaillen, wenn sie ihre Träume nun leben kann.