Es ist gespenstisch still im Bundesamt für Gesundheit (BAG) in Liebefeld bei Bern. Die Belegschaft ist – ordnungsgemäss – im Homeoffice, bis auf jene, die für die Krisenarbeit zuständig sind, allen voran Anne Lévy, 48. Im Oktober, mitten in der Corona-Krise, hat sie das Amt als Direktorin des BAG angetreten, als Nachfolgerin von Pascal Strupler.
«Mir blieb keine Zeit, mich einzuarbeiten», sagt sie in ihrem Büro, «aber ich habe in sehr kurzer Zeit sehr viel lernen können.» Im halbstündigen Gespräch beweist Lévy, dass schnelles Berndeutsch kein Widerspruch ist, und betont, dass sie lieber rede, als für Bilder zu posieren. «Aber jetzt ist fertig», sagt sie nach dem vierten Sujet.
Frau Lévy, wie geht es Ihnen?
Hm, gute Frage. Ich denke selten darüber nach – eigentlich ein Zeichen, dass ich sehr eingespannt bin. Trotzdem würde ich sagen: Es geht mir gut. Meine Arbeit motiviert mich, weil wir ein gutes Team sind und sofort Resultate sehen. Das ist nicht selbstverständlich in einem Verwaltungsjob. Nehmen wir etwa die Corona-Fallzahlen: Sie zeigen regelmässig und nüchtern, ob unsere Massnahmen greifen oder nicht.
Belastet Sie das nicht?
Doch, natürlich. Meine Tage sind sehr lang, freie Wochenenden habe ich keine, das ist anstrengend. Und oft ernähre ich mich tagsüber nur von Kaffee und Schoggistängeli.
Was hilft Ihnen?
Ich bin ein optimistischer Mensch und kann gut abschalten. Ausserdem unterstützt mich mein Umfeld, besonders mein Mann. Abends tauschen wir uns immer über den Tag aus. Und wir haben einen Hund, mit dem ich zweimal die Woche über Mittag rausgehe. Auch wenn es nur ein Spaziergang auf den Gurten ist – solche Pausen sind sehr wichtig. Aber man muss auch spüren, wann genug ist. Manchmal komme ich abends nach Hause und will nur noch meine Ruhe. Dann lasse ich Mails auch mal unbeantwortet und stelle mein Handy auf lautlos.
Kaum haben Sie Anfang Oktober als neue BAG-Chefin übernommen, explodierten die Corona-Fallzahlen wieder. Haben Sie damit gerechnet?
Wir wussten, eine zweite Welle wird kommen, und wir fürchteten, dass sie heftiger sein könnte als die erste. Aber die Schnelligkeit, mit der sie über uns hereinbrach, hat uns überrascht.Viele haben sich während der ersten Welle irgendwie durchgebissen.
Was macht die zweite Welle mit uns?
Die Winter- und Weihnachtszeit ist für manche Menschen ohnehin schon schwierig. Sie fühlen sich einsam oder depressiv. Nun kommen die Einschränkungen wegen Corona hinzu. Familientreffen sind nur bedingt möglich…
…dabei sind soziale Kontakte wichtig für unsere Seele.
Darum war der Bundesrat stets darauf bedacht, das soziale Leben nicht ganz zum Erliegen zu bringen. Die Leute durften ja immer raus, zum Spazieren oder Einkaufen. Das gilt auch für Weihnachten. Niemand muss alleine feiern, aber halt anders als gewohnt. Warum nicht mit Maske und Glühwein draussen anstossen? Seien Sie kreativ!
Was, wenn ich nicht kreativ, sondern einfach nur Corona-müde bin?
Das verstehe ich sehr gut. Auch wir vom BAG sind manchmal Corona-müde. Niemand hat damit gerechnet, dass wir so lange im Krisenmodus bleiben. Dennoch stelle ich fest, dass es den meisten Menschen in der Schweiz gut geht. Zugleich gibt es etliche, die sich psychisch krank fühlen – diese dürfen wir nicht vergessen. Das BAG führt deshalb zusammen mit Hilfsorganisationen einen Aktionstag für psychische Gesundheit durch. Wir wollen Solidarität mit Betroffenen schaffen und Hilfsangebote bekannt machen.
Wer ist besonders krisenanfällig?
Menschen in schwierigen Umständen, etwa Opfer von häuslicher Gewalt, Armutsbetroffene oder Arbeitslose. Doch auch alleinlebende oder sozial isolierte Personen sind stärker gefährdet. Aber jeder und jede kann depressiv werden.
Jüngeren macht die soziale Distanz offenbar mehr zu schaffen als Älteren.
Das stimmt. Für Jugendliche ist es unglaublich wichtig, mit Gleichaltrigen auszugehen. Whatsapp und Facetime können die «echten» Kontakte nicht ersetzen.
«Ich glaube, Depression ist heute eine anerkannte Krankheit, und für Krankheit kann man nichts»
Anne Lévy
Bevor Sie zum BAG kamen, waren Sie Direktorin der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. Was raten Sie Menschen, denen Corona aufs Gemüt schlägt?
Wir haben mit Corona Neuland betreten. Es ist normal, dass wir darauf mit Ängsten und Unsicherheit reagieren, niemand muss sich deswegen genieren. Mein Rat: Redet über eure Sorgen. Auch Bewegung, Spaziergänge oder Telefonate mit nahen Menschen können helfen.
Wie merkt man, ob einem die Krise psychisch mehr zu schaffen macht, als es gut ist?
Dafür gibt es kein klares Kriterium wie etwa bei Fieber. Vielmehr beschleicht einen das diffuse Gefühl: Mit mir stimmt etwas nicht. Dann macht es Sinn, Hilfe zu suchen. Auch bei der Psyche gilt: Lieber einmal mehr reagieren.
Viele Leute schämen sich für ihr psychisches Leiden.
Ich glaube, Depression ist heute eine anerkannte Krankheit, und für Krankheit kann man nichts.
Auch wenn eine Impfung Hoffnung gibt, stehen uns noch schwierige Monate bevor. Machen Sie uns etwas Mut!
Die Menschen möchten von mir ständig wissen: Wie lange dauert diese Pandemie noch? Aber das kann ich nicht sagen. Wir müssen uns alle an diese Ungewissheit gewöhnen. Doch ich verstehe, dass das schwierig ist. Corona weckt Ängste, mitunter auch Todesängste! Wir müssen zuschauen, wie Angehörige daran schwer erkranken oder gar sterben. Das nimmt mich persönlich auch sehr mit.
Wirklich kein Licht am Ende des Tunnels?
Doch, so pessimistisch bin ich nicht. Sobald der Impfstoff da ist, können wir mit Impfen beginnen. Doch das wird in Etappen geschehen: Zunächst die Risikogruppen, ihre nahen Kontaktpersonen, das Gesundheitspersonal, dann alle anderen, die sich impfen lassen wollen. Bis dahin müssen wir durchhalten.
Über die Aktion «DARÜBER REDEN. HILFE FINDEN.»
Viele Menschen in der Schweiz leiden auch seelisch unter den Auswirkungen der Coronakrise. «DARÜBER REDEN. HILFE FINDEN» heisst der Aktionstag, der vom BAG initiiert wurde und am 10. Dezember 2020 stattfindet. Die Hilfsorganisationen Pro Mente Sana, Dargebotene Hand, Pro Juventute, Pro Senectute, Caritas und das Schweizerische Rote Kreuz widmen sich gemeinsam mit Ringier, der SRG (alle vier Sprachregionen) und vielen weiteren Akteuren den verschiedensten Aspekten des Themas «psychische Gesundheit». Menschen in schwierigen Situationen erfahren so Solidarität und werden über konkrete Hilfsangebote informiert. Der Tag sensibilisiert auch die Gesamtbevölkerung dafür, im Umfeld aufmerksam zu sein und Hilfe zu leisten.
Weitere Informationen: bag-coronavirus.ch/hilfe