Unzählige Stunden verbringen Spitzensportler in Hotelzimmern rund um die Welt. Viel Zeit braucht der Körper für die Erholung, aber was macht der Geist in diesen Stunden? Urs Kryenbühl suchte – und fand: die Musik. Gleich mehrere Gitarren, eine Ukulele und eine Reisegitarre stehen in der gemeinsamen Wohnung des 25-Jährigen und seiner Freundin Nadine Marty, 26, in Unteriberg SZ.
Die Musik gehört schon lange zur Familie des jungen Skifahrers: Sein Grossvater war in der Region ein bekannter Schwyzerörgeli-Spieler, Urs’ Cousin trat in dessen Fussstapfen. «Mein Grossvater ist früh gestorben, und mein Ziel als Kind war, so zu spielen wie er», erinnert sich Kryenbühl. Selber aber mag der zurückhaltende Schwyzer den Auftritt vor Leuten nicht, weswegen er lieber für sich spielt.
Nun jubeln ihm dafür die Skifans zu: Mit einem Gefühl fürs Material, den Schnee und die Linienwahl wie Beat Feuz rast er kurz vor dem Jahreswechsel in Bormio – auf einer der schwierigsten Strecken überhaupt – auf den
zweiten Rang. Genau zwischen die Abfahrts-Dominatoren Dominik Paris und Feuz. Erst glaubt er, die Zeit gelte nicht ihm. Dann wird ihm bewusst: Jetzt muss ich wohl jubeln!
So glücklich Kryenbühl mit seinem Erfolg in Italien ist – er erwartet nun nicht, ständig auf dem Podest zu stehen. Schliesslich ist er vorher erst zweimal in die Top 20 gefahren. Und jetzt steht das Lauberhornrennen an, wo er bei seinem einzigen Start nur 40. wurde. Trotzdem: «Ich will jede Abfahrt genau so angehen wie in Bormio.»
Bei allem Ehrgeiz, den jeder Spitzensportler mitbringt – privat will er nicht immer mehr und mehr. Materielles hat für ihn keinen grossen Stellenwert. «Ich bin dankbar für das, was ich habe.» Von den vielen Schweizer Nachwuchsfahrern mit Jahrgang 1994 haben es bloss wenige in die Speeddisziplinen des Weltcups geschafft, «und ich bin einer dieser Privilegierten». Auch der Tod seines Teamkollegen Gian Luca Barandun, der vor einem Jahr beim Gleitschirmfliegen verunglückte, machte ihm wieder bewusst, das Schöne im Leben zu schätzen. «Urs ist wirklich ein sehr bescheidener und zufriedener Typ», sagt seine Freundin.
Seit vier Jahren teilt er das Leben mit Nadine Marty aus Oberiberg. Die ehemalige Fussballerin lernte er an einem Grümpelturnier kennen und später lieben. Sie ist Primarlehrerin und hat den Freitag jeweils frei, sodass sie im Winter an die näher gelegenen Rennorte Europas reisen kann. Seit eineinhalb Jahren leben sie gemeinsam in einer Wohnung, die ihren Eltern gehört und die die ganze Familie zusammen renoviert hat. Das spezielle Haustier: Echse Barti, eine Zwergbartagame, die momentan Winterruhe hält.
Den Sommer geniessen Urs und Nadine gemeinsam: Beim Mountainbiken, Tennisspielen, Stand-up-Paddeln auf dem Sihlsee. Kryenbühl gestaltet sein Sommertraining gerne abwechslungsreich. Er macht die Intervalle auf dem Bike mit einer Abfahrt als Belohnung, anstatt nur im Kraftraum Gewichte zu stemmen. Der Vorteil dabei: Seine Freundin kann mitziehen.
Die beiden sind ein gemütliches Paar, Partynächte gehören selten zum Programm, lieber jassen sie eine Runde. Und kochen viel zusammen. Seit ein paar Monaten ernähren sich die beiden vegan, Auslöser war der Dokumentarfilm «The Game Changers» mit Protagonisten aus dem Sport wie Lewis Hamilton. Kryenbühl fühlt sich nach der Umstellung – die nicht auf ethischen, sondern gesundheitlichen Überlegungen beruht – bestens. Nahrungsergänzungsmittel und Vitamine nahm er bereits zuvor, Urs arbeitet mit Nadines Vater zusammen, einem Naturarzt. «Bloss unterwegs ist es manchmal schwierig», in den Hotels isst er ab und zu halt vegetarisch.
Kryenbühl ist bloss einen Steinwurf entfernt von der um ein Jahr älteren Wendy Holdener aufgewachsen, die beiden sind im Skiclub Drusberg. Kryenbühls Mutter arbeitete im Skigebiet Hoch-Ybrig, sodass er, sein Bruder Rolf und ihr Cousin Martin Bless ständig auf den Ski waren. Auch diese beiden fuhren früher Rennen, verfolgten aber keine Profikarriere. Dafür stehen sie bald nochmals gemeinsam auf der Piste: Ausgerechnet auf der berüchtigten Abfahrt in Kitzbühel sind sie als Vorfahrer am Start, zum letzten Mal.
Urs Kryenbühl wird sich auch dort auf sein ausgeprägtes Gespür, sein aussergewöhnliches Feingefühl verlassen können. Schon als Kind ist er einmal mit offenen Skischuhen Rennen gefahren, ohne deswegen Probleme zu bekunden.