«Monsieur Parfait»: So nennen Alain Berset die Westschweizer Journalisten bei seinem Amtsantritt als Bundesrat 2011. Kein Wunder, denn die politische Karriere des studierten Ökonomen aus Freiburg ist makellos: Gemeinderat in Belfaux, Präsident der SP im Verfassungsrat von Freiburg, mit 31 Jahren jüngster Ständerat, mit 39 Jahren zweitjüngster Bundesrat der Nachkriegszeit.
«Ich bin wohl der erste Bundesrat, der keine Schreibmaschinen mehr in Büros erlebt hat», sagt er damals der Schweizer Illustrierten. Und der erste, der sich via Facebook bei seinen Mitstreitern bedankt. Auf die Frage, ob ihn Macht fasziniere, antwortet er: «Man kann nicht für den Bundesrat kandidieren, wenn man nicht in irgendeiner Form Einfluss nehmen will.»
Was ihn ebenfalls von seinen Vorgängern in der Landesregierung unterscheidet: Er hat drei kleine Kinder. Antoine ist bei Papas Wahl acht Jahre alt, Achille sechs und Apoline vier. «Heute muss es möglich sein, das Bundesratsamt mit einer Familie zu vereinbaren», sagt Berset, der seine Kinder stets vor der Öffentlichkeit abschirmt.
Nachdenklicher gibt sich seine Frau, Künstlerin und Literaturwissenschaftlerin Muriel Zeender: «Ich hoffe, dass wir auch in Zukunft ein Familienleben haben.»
Zwölf Jahre und 29 nationale Abstimmungen später sagt Monsieur le Président Adieu. Auffällig gelassen verkündet der 51-Jährige am Mittwoch, dass er auf Ende Jahr, das Ende seiner Amtszeit, zurücktritt. Während andere Mitglieder der Landesregierung bei ihren Demissionen Emotionen zeigen, bleibt Berset gefasst.
Die Frage, ob die verschiedenen Skandale Grund für seinen Abgang seien, pariert er cool: «Nein, überhaupt nicht.» Mit der Abstimmung über das Covid-Gesetz sei auch die Coronapandemie abgeschlossen. Der Zeitpunkt passe.
Als Gesundheitsminister stösst Berset zig Reformen an – der grosse Wurf gelingt ihm aber nicht. So scheitert 2017 die Kompromissvorlage «Altersvorsorge 2020». Dafür überzeugt er als Kulturminister mit feingeistigen Reden wie an der Eröffnung des Kunstmuseums Basel («Die Erweiterung erweitert unseren Horizont»). Und als zupackender Gast beim Risotto-Rühren am Filmfestival Locarno («schön al dente muss er sein»).
2020 schlägt Bersets grosse Stunde. Mit der Coronapandemie wird er zum Krisenmanager der Nation mit ungewöhnlicher Popularität. Diese geht so weit, dass sein Konterfei T-Shirts ziert. Die Kehrseite der Medaille: Mit seinen Massnahmen macht er sich Feinde. «Wenn man sich physisch bedroht fühlt, wird es kompliziert», sagt Berset der SI. Er und seine Familie brauchen damals Polizeischutz. «Ich bin in Bezug auf mein Engagement und mein Arbeitspensum an meine Grenzen gegangen.»
So arbeiten er und sein Team vom 23. Februar bis zum 9. April 2020 18 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche, fast ohne Pause. Da habe er sich schon gefragt: «Warum tust du das immer noch?» Er sei keine Maschine. Geholfen hätten ihm sein Team und Hunderttausende Postkarten, Briefe und E-Mails. Kein Wunder, wird Berset zum beliebtesten Bundesrat gewählt.
Das Bild gegen aussen pflegt Berset gekonnt. Dazu gehört auch der Borsalino-Hut, der während seiner Amtszeit zum Markenzeichen wird. Der Freiburger ist der einzige Magistrat, über den während seiner Amtszeit zwei Bücher erscheinen. Zum einen das Fotoalbum von seinem ersten Jahr als Bundespräsident 2018. In der Tradition amerikanischer «White House»-Fotografen zeigt sich Berset auf Reisen, an Sitzungen und Galadinners.
Via soziale Medien geht das Bild um die Welt, als der «Swiss President» am Rande der Uno-Generalversammlung in New York auf dem Trottoir Notizen studiert. Im Dezember 2020 folgt das zweite Buch, geschrieben vom ehemaligen «NZZ am Sonntag»-Chef Felix K. Müller mit dem Titel «Wie ich die Krise erlebte».
Das bringt Berset Kritik ein im Stil von: «Welcher Bundesrat hat noch Zeit, Auskünfte zu einem Buch zu geben?» Müller erinnert sich: «Die Interviews erlaubten ihm, einen Schritt vom Tagesgeschäft zurückzutreten und über Grundsätzliches nachzudenken. Mir schien, er hat das genossen – und er war immer erstaunlich ruhig.»
Mit dem Ende der Pandemie beginnt das Image des «Monsieur Parfait» wegen privater Skandale zu bröckeln. Zuerst wird publik, dass eine Ex-Geliebte ihn erpresst. Dann erfährt die Öffentlichkeit, dass Hobbypilot Berset von der französischen Armee zur Notlandung gezwungen wird, und kurz darauf kommt er wegen eines privaten Vorstosses gegen eine Handyantenne ins Kreuzfeuer der Kritik.
Auf die Frage der SI im August 2022, was dies mit ihm macht, antwortet er: «Ich engagiere mich in der Politik mit viel Herzblut und Leidenschaft. Dabei passieren Fehler. Wichtig ist, das man aus ihnen lernt.» Schon beim Amtsantritt sinniert er: «Die Gefahr, mit dem ganzen Drumherum den Bezug zur Realität zu verlieren, besteht.»
Nach einem kurzen Hoch – Berset bringt die erste AHV-Reform nach 30 Jahren zum Erfolg – folgt mit den «Corona-Leaks» der nächste Tiefpunkt. Nach den Indiskretionen aus dem Innendepartement verliert Berset auch beim Volk an Popularität und landet im März auf der Beliebtheitsskala hinter Viola Amherd und Karin Keller-Sutter auf Rang 3.
Letzte Woche zeigt sich Berset beim Schweizer Art Award locker wie immer, macht für den SI-Fotografen den Blues Brother mit Sonnenbrille. Da wusste der SP-Mann bereits: Ende Jahr ist Schluss.
Auf die Frage, was er denn nach seinem Rücktritt machen will, witzelt Berset: «Heute ist Weltyogatag. Vielleicht beginne ich mit Yoga.» Mehr Zeit hat er nun auch für seine grosse Leidenschaft, die Jazzmusik. «Wie ich Klavier spiele, spiegelt wider, wer ich wirklich bin.» Er investiere viel Energie in seine Funktion als Bundesrat, «aber sie ist nur ein kleiner Teil von mir».