Philomena – abgeleitet von den griechischen Wörtern «phílos» (Freund) und «ménos» (Mut). Freundin des Mutes, so könnte man ihren Vornamen übersetzen. «Oder einfach die Mutige!» Philomena Colatrella, 53, scheut sich nicht, kontroverse Diskussionen zu lancieren, Grundsätze infrage zu stellen und ihre Branche aufzurütteln. Die Gänge im Gebäude der CSS in Luzern sind lang, sodass man der Chefin zwangsläufig über den Weg läuft. Das passt ihr. Während unseres Shootings bleibt sie immer wieder stehen, redet freundschaftlich mit Mitarbeitenden und gestikuliert italienisch. Wenn sie dann aber wieder da ist, ist sie ganz da.
Holpriger Einstieg
«Frau Colatrella, wie haben Sie es an die Spitze geschafft?» – «Ich wollte immer Verantwortung übernehmen.» Philomena Colatrellas Einstieg bei der CSS war holprig. 1999 ist sie eine frischgebackene Anwältin, steigt als Rechtskonsulentin bei der Versicherung ein und findet das Unternehmen «schwerfällig». Nach drei Monaten will sie abspringen – «ich hatte ein Angebot aus London, strebte eine internationale Laufbahn an» – doch ihr Vorgesetzter hält sie auf. «Immer wieder hatte ich hier Chefs, die mir vertrauten und mich förderten.»
Unverhofft bleibt «Philo» also bei der CSS, bis heute. Umso erstaunlicher, da sie sonst «rastlos» ist. Alle drei Jahre braucht sie eine Veränderung. Dann lernt sie eine neue Sprache (Portugiesisch) oder ein neues Hobby (Klavier, Gesang, Stand-up-Paddeln). Zum Zmorge liest sie eine Stunde lang Fachstudien oder Bücher über Organisationsentwicklung. Ihren Hang zu Naturwissenschaften, Informatik und Technik bringt sie in der CSS ein – Colatrella will ihre Krankenkasse zur digitalen Vorreiterin der Branche machen. Aber halt, eigentlich ist die Luzernerin ja vor allem eine «begeisterte Wanderin», «regelmässige Tennisspielerin» und ein «riesiger Architektur-Fan» … Was noch?
Er gibt ihr Bodenhaftung
«Ich kann auch faul sein!» Colatrella weiss um ihren umtriebigen Antrieb. Gebremst wird sie von ihrem Mann. Der Architekt gibt ihr Bodenhaftung. «In der Beziehung bin ich konstant, das erdet mich.» Kinder waren zwischen den beiden auch mal ein Thema. «Aber mit etwa 40 habe ich die Weichen ganz auf den Beruf gestellt.» «Frau Colatrella, wie haben Sie es an die Spitze geschafft?» – «Es stört mich nicht, auch mal hartnäckig zu sein und kurz zu nerven. Das gehört dazu.»
Wir folgen der Luzernerin in ihre Stadt hinein. Sie wohnt in der Nähe des Löwendenkmals, «das ich mir aber nie ansehe». Im französischen Bistro Petit Mardi gras neben der Reuss ist Colatrella Stammgast, ausser natürlich während des Lockdowns. Was hat Corona mit den Krankenkassen gemacht? «Die Pandemie hat Kosten gesenkt, weil Eingriffe verschoben wurden, andererseits aber auch Kosten gesteigert durch die vielen intensivmedizinischen Behandlungen.»
Unterdessen geimpft
Explodieren lässt Corona die Prämienkosten – vorerst – aber nicht. Colatrella selbst hatte Corona. Nach zehn Tagen war das Fieber weg und der Geschmack wieder da. «Unterdessen bin ich auch geimpft.»
Mit der CSS-App «active 365» sammeln Kundinnen und Kunden Punkte, wenn sie sportlich sind und häufig trainieren. Diese Punkte lösen sie dann beispielsweise beim Kauf eines Langlaufpasses ein. Colatrella, die Sportministerin? «Gesundheitsförderung tönt nicht sehr anregend – man muss Lust darauf machen! Bei Krankheiten wie Diabetes kann man mit Bewegung und Ernährung so viel erreichen. Es geht mir dabei nicht einfach nur um die Kosteneinsparung für die CSS. Ich verstehe mich als Anwältin der Kundinnen und Kunden und will ihnen die Möglichkeit geben, ihre Gesundheit zu verbessern.»
Immer digitaler
Bevormunden wolle sie definitiv nicht, so Colatrella, denn dieses Gefühl könne sie nicht ausstehen. Lieber macht sie sich die Digitalisierung zunutze. Das ETH-Start-up Pregnolia etwa hilft schwangeren Frauen dabei, das Risiko einer Frühgeburt abzuschätzen. Auch der Kontakt mit den Versicherten wird immer digitaler. «Für ältere Menschen und solche, die das nicht möchten, muss es aber auch bei digitalen Angeboten immer wieder eine Alternative geben», so Colatrella, «wir müssen telefonisch und in unseren Agenturen erreichbar sein.» Sie selbst ist selbstverständlich auch eine der 1,4 Millionen CSS-Kunden und hat das Multimed-Modell, bei dem sie vor einem Arztbesuch zwischen Telemedizin, Hausarzt und der digitalen Plattform der CSS wählt.
Wenn man ihr länger zuhört, wird klar, dass Colatrella gern die ganze «von Konkurrenzdenken geprägte Branche» in Bewegung bringen würde. «Häufig macht jeder Versicherer seine eigenen Projekte, statt zusammenzuspannen, wo es sinnvoll ist.» Und auch auf die Einführung von elektronischen Patientendossiers wartet sie bisher vergeblich. «Wir brauchen in der Schweiz eine offenere Haltung in der Zusammenarbeit, auch über die Kantonsgrenzen hinaus.»
Was italienisch an mir ist? Der Sinn für das Schöne, das Temperament und die Nahbarkeit
Philomena Colatrella
Colatrella ist Doppelbürgerin. Ihre Eltern kamen in den 60er-Jahren aus Italien in die Schweiz. Italienisch an sich selber findet sie «den Sinn für das Schöne, das Temperament, die Nahbarkeit». Ihr Vater ist heute mit 74 Berater beim italienischen Konsulat, ihre Mutter die Chefin zu Hause, ihr Bruder Trainer bei der U21-Mannschaft des FC Zürich. Sie selbst ist nicht nur Chefin der CSS, sondern auch Mitgründerin und Vizepräsidentin des Branchenverbands Curafutura und eine von zwei Frauen (neben zwölf Männern) beim Schweizerischen Versicherungsverband SVV.
Mutig voran!
«Frau Colatrella, wie haben Sie es an die Spitze geschafft?» – «Es hilft, den eigenen Anspruch zu äussern und kundzutun. Sich nicht zu verstecken!» – Ein bisschen Mut gehört also klar dazu.