Wenn Vreni Schneider, 56, heute Skirennen schaut, fiebert und kommentiert sie mit: «Diese Fahrerin kommt von dort, hat jenes schon erlebt und sich wieder zurückgekämpft.» Bis ihre Söhne Flavio und Florian sagen: «Muetter, das müssen wir jetzt wirklich nicht so genau wissen.» Doch für Schneider ist es genau das, was sie am Sport noch immer fasziniert und berührt: nicht die blanken Zahlen und Titel, sondern die Geschichten von jedem Einzelnen, die der Sport schreibt. «Nicht nur der Erfolg, sondern was für ein Mensch dahintersteckt.»
Nun steht diese goldene Trophäe vor ihr im Schnee, ihr ausgestreckter linker Arm zeigt auf Vreni Schneider, als wolle sie sagen: «Du! Du bist die Siegerin!» Fünf Mal war Schneider zwischen 1988 und 1995 Sportlerin des Jahres, ein Rekord wie so viele in ihrer Skikarriere. Die «Sports Awards» gabs damals allerdings noch nicht. Jetzt aber wurde Schneider an der grossen TV-Gala als beste Sportlerin der vergangenen 70 Jahre gewählt. Früher gabs bei Ehrungen auch einfach mal eine Saucisson mit einem Schleifchen drum.
«Sieg und Niederlage liegen so nahe beieinander. Die Gesundheit ist das Allerwichtigste»
Den Preis erhielt sie für ihre Wahnsinnskarriere, klar: dreimal OlympiaGold, dreimal WM-Gold, 55 Weltcupsiege. Doch eben auch, weil sie im Erfolg stets sie selbst geblieben und damit bis heute beliebt ist. Die Bescheidenheit zieht sich durch ihr ganzes Leben, sie hat das aufgesogen von den Eltern. «Es war wichtig, nie zu vergessen, wo ich zu Hause bin.» Der Krebstod ihrer Mutter mit 16 prägte sie tief. Diese habe nie gejammert. So hatte es lange gedauert, bis Vreni realisierte, dass die Mutter wirklich so krank war – weil diese stets so positiv war. Der Sport half Schneider, ihrem Vater und den drei älteren Geschwistern danach, mit allem klarzukommen – und war ohnehin eine gute Lebensschule. Man lerne, zu kämpfen und einzustecken. «Sieg und Niederlage liegen so nahe beieinander, und die Gesundheit ist das Allerwichtigste. Alles andere muss man irgendwie meistern.»
Mitleiden mit der Konkurrenz
Die Bescheidenheit zeigte sich auch in der Beziehung zu ihrer Konkurrenz. Zwar ist Schneider immer sehr, sehr ehrgeizig, macht im Training jeweils am meisten – aber sie will durch ihre Leistung siegen, nicht durch Fehler anderer. Wenn sie nach einem ihrer legendären zweiten Läufe als Führende im Ziel steht, leidet sie mit den anderen mit. Selbst wenn es um Olympia-Gold geht. Als sie sich 1988 in Calgary bereits mit der Silbermedaille abgefunden hat, begeht die Führende einen Innenskifehler, und Schneider denkt: «Jetzt muss sie doch nochmals rauf und es probieren!» Und wenn sie den Kolleginnen aus dem Ziel per Funk ihre Einschätzung zum Kurs durchgibt, sagen die anderen: «Man spürt an deiner Stimme, dass es ehrlich ist und du wirklich willst, dass wir schnell sind.» Ehrgeiz ja, aber kein falsches Spiel.
Diese Werte, diese Bodenständigkeit sind ihr bis heute geblieben. Nach wie vor ist sie in ihrer Heimat Elm so stark verwurzelt, dass sie nie etwas anderes wollte, als hier zu leben. In ihrer Rolle als Mutter ist sie aufgegangen: «Das ist für mich das Grösste, auch wenn es mich manchmal überfordert hat!» Heute sind die Söhne 14 und 16 Jahre alt, und dieses Alter bringt neue Herausforderungen: Dass es langsam Zeit zum Loslassen wird, findet Schneider schwierig. «Ich bin halt eine Gluggere.» Zudem macht der Ältere eine Ausbildung zum Forstwart, und bei den Videos, die er ihr vom Bäumefällen zeigt, kann sie kaum hinschauen.
Die Familie ist das, was für sie in Zukunft zählt: Grosse Projekte hat Schneider neben der Skischule, die sie gemeinsam mit ihrem Mann Marcel Fässler in Elm führt, nicht. Träume, Erwartungen ans künftige Leben? «Ich wünsche mir nur, dass wir alle gesund bleiben.» Ihre Nichten haben auch bereits Kinder, «und das ist so schön, wie sie das geniessen. Das ist mein
Leben.»
Dass es auch anders gehen kann, weiss sie. Eine Zeit lang kam sie kaum nach mit dem Schreiben von Trauerkärtchen, das hat sie ebenso belastet wie die Unsicherheit der Corona-Krise. Umso mehr schätzt sie, was sie im Leben alles erleben durfte. Die Freundlichkeit, die sie anderen gab, kam immer zurück. «Ich bin dankbar. Es ist ein schönes Leben.»