Kurz vor Mittag bricht auf einmal Hektik aus: Von überallher tauchen Männer in oranger Schutzkleidung auf. Sie hasten zu einem stählernen Koloss, der mitten in der riesigen Produktionshalle der Firma Stahl Gerlafingen im Kanton Solothurn auf einer Plattform steht. Es ist die Stranggussanlage, ein graues Ungetüm, das aussieht wie ein überdimensionierter Tisch.
Einige schauen gebannt auf einen Monitor, der an einer Seitenwand angebracht ist. Andere stehen in Grüppchen zusammen, gestikulieren, telefonieren, rauchen. Die Anspannung ist mit Händen zu greifen. Wegen eines technischen Defekts stand das Werk heute den ganzen Morgen still, nun haben die Techniker endlich grünes Licht für das Wiederanfahren gegeben. Ein lautes Signal ertönt. Wie auf Kommando ziehen die Arbeiter fast gleichzeitig bei ihren Helmen das Schutzvisier herunter – ein Bild wie aus einem Actionfilm.
Und dann schiesst auf einmal über 1550 Grad heisser Stahl aus einem Loch oberhalb des «Tisches» in eine Art Wanne. Von hier wird die orange Flüssigkeit über mehrere Düsen in viereckige Rohre geleitet und so in Form gegossen. Die Männer in ihren Schutzanzügen geben mit kleinen Kannen Giessöl zu, stochern mit langen Stäben im heissen Stahl herum, die Zigarette immer noch im Mundwinkel. Funken sprühen, es zischt und brummt, es riecht nach Eisen und Staub. Stahl Gerlafingen, das älteste Stahlwerk der Schweiz, ist zurück im Geschäft!
Entlassungswelle abgewendet
Dass der Betrieb an diesem Freitag Ende November doch noch hochgefahren werden kann, steht sinnbildlich für die Lage zwischen Hoffen und Bangen, in der Stahl Gerlafingen steckt: Sprichwörtlich in letzter Minute hat die Energiekommission des Nationalrats vor wenigen Tagen einen Vorschlag erarbeitet, mit dem das taumelnde Unternehmen gerettet werden soll: Die Energiepolitiker wollen der Firma vorübergehend einen Teil der Stromkosten erlassen. Diese Finanzhilfe ist bitter nötig: Rund 100 Millionen Franken Verlust schrieb Stahl Gerlafingen im Jahr 2023. Und auch 2024 droht ein Abschluss in den roten Zahlen.
Aufgrund des politischen Entscheids verzichtet der italienische Mutterkonzern Beltrame nun vorerst auf die geplanten Massenentlassungen und setzt stattdessen auf Kurzarbeit: 120 von 500 Mitarbeitenden sollten demnächst ihren Job verlieren. Es wäre bereits die zweite Entlassungswelle in diesem Jahr gewesen, nachdem im Frühling 95 Angestellte hatten gehen müssen. Nun ist diese Gefahr fürs Erste gebannt.
Die Erleichterung unter den Arbeitern ist gross: «Ich freue mich sehr, dass es weitergeht», sagt Wladimir Enns, ein 51-jähriger wortkarger Schweisser aus Deutschland. Sein Kollege Yasar Buharali, der den Pfannenofen bedient, gibt sich zuversichtlich: «Es gab schon früher immer wieder Krisen. Bis jetzt gabs noch jedes Mal eine Lösung. Ich bin überzeugt, dass es auch dieses Mal so sein wird.» Die Hoffnung ist zurück. Die Frage ist nur: Wie nachhaltig ist die Hilfe aus Bundesbern?
Stahlretter haben die Oberhand
Die Zukunft der Fabrik bei Solothurn ist in den letzten Monaten zum Politikum geworden: Auf der einen Seite stehen Gewerkschaften, linke Parteien und die geballte Kraft der Solothurner Politik. Sie argumentieren mit dem Erhalt der Arbeitsplätze, mit der strategischen Bedeutung von Schweizer Stahl und mit dem Umweltschutz. Sie wollen das Werk um jeden Preis retten – notfalls mit Steuergeldern.
Auf der anderen Seite stehen die liberalen Kräfte. Sie sagen, Stahl sei kein Exportgut der Zukunft und es sei nicht Aufgabe der Politik, den Strukturwandel aufzuhalten. Zu dieser Gruppe gehört auch SVP-Wirtschaftsminister Guy Parmelin. Er sprach Stahl Gerlafingen im letzten März die Systemrelevanz ab. Ein Schlag ins Gesicht der Arbeiter, welche in dieser riesigen Halle die Stahlproduktion 24 Stunden am Tag am Laufen halten, 365 Tage im Jahr.
Zurzeit haben die Retter in diesem Politpoker die Oberhand. Doch der Entscheid der Energiekommission war knapp, und er muss in der Dezembersession noch vom Nationalrat bestätigt werden. Auch der Ständerat muss der «Lex Gerlafingen» zustimmen. Kommt hinzu: Selbst wenn die Räte entscheiden, Stahl Gerlafingen während vier Jahren einen Teil der Kosten für die Nutzung des Stromnetzes zu erlassen, ist die Zukunft des Werks nicht gesichert. Denn die Probleme in der Stahlindustrie sind vielschichtig. Die hohen Stromkosten sind nur ein Teil davon –wenn auch ein substanzieller.
Explodierende Strompreise
Um zu verstehen, warum das so ist, lohnt sich ein Blick in die Ofenhalle: Hier befindet sich der Schmelzofen, ein riesiger Topf, in den nun mithilfe eines Magneten 88 Tonnen Schrott gekippt werden: ein wilder Mix aus Autowrackteilen, verbogenem Gestänge, ausrangierten Eisenbahnschienen und verbeulten Pfannen. Zu nahe ran darf das Reporterteam nicht. Denn der Ofen wird 1620 Grad heiss. Doch die Dampfwolke, die alsbald aufsteigt, ist auch aus 50 Metern Distanz eindrücklich.
Erhitzt wird der Schrott in Gerlafingen elektrisch, und das ist einer der Gründe, weshalb das Werk in den letzten Jahren ins Schlingern geraten ist: Nicht nur explodierten die Energiepreise aufgrund des Ukrainekriegs, hinzu kommen immer höhere Gebühren für die Nutzung des Stromnetzes sowie Förderabgaben für erneuerbare Energien. «Wir verlieren mit jeder produzierten Tonne Stahl Geld», klagte der Besitzer von Stahl Gerlafingen, Antonio Beltrame, in der «NZZ am Sonntag».
Tiefere Stromkosten würden der Firma in dieser schwierigen Lage helfen. Doch das Unternehmen kämpft noch mit weiteren Problemen wie der weltweiten Überproduktion und dem Rückgang der Nachfrage nach Stahl. Viele glauben deshalb, staatliche Hilfe wäre nur ein Tropfen auf den heissen Stein.
Gerlafingen weiss vor diesem Hintergrund: Ihr wichtigstes Argument in diesem Kampf um Unterstützung ist der Umweltschutz. Denn das Werk schmelzt elektrisch und verwertet Schrott. Das führt dazu, dass der CO2-Ausstoss von Gerlafinger Stahl bis zu fünfmal geringer ist als von ausländischem Stahl, der oft in Kohleöfen produziert wird. Andreas Steffes, Geschäftsführer des Verbands Metal Suisse, sagt es so: «Wir müssen uns fragen, was es uns wert ist, den Recyclingkreislauf in der Schweiz zu schliessen.»
Zurück in die Hitze des Gefechts, zurück zu den Arbeitern, die hier in wenigen Produktionsschritten ein wahres Recyclingwunder vollbringen: Nach rund 40 Minuten haben sich die Eisenbahnschienen, Stangen und Töpfe in eine 1620 Grad heisse, orange glühende Flüssigkeit verwandelt. Die Masse scheint von innen zu leuchten. Zeit, den flüssigen Stahl in den nächsten Behälter zu giessen, die sogenannte Pfanne. Der Name ist etwas irreführend, denn die Pfanne sieht mehr aus wie ein überdimensioniertes Fass.
Jetzt kommt Pfannenofenbediener Yasar Buharali zum Einsatz: Mit einem Rohr entnimmt er der zischenden Masse eine Probe, gibt je nach Bedarf mehr Mangan oder Silicium zu. Legierung anbringen nennt sich das im Fachjargon. Mit seinem grau melierten Bart sieht der 56-Jährige ein bisschen aus wie der Druide Miraculix aus dem Comic Asterix und Obelix beim Mixen seines berühmten Zaubertranks. Buharali nimmt eine letzte Kontrollprobe und nickt: Die Charge ist bereit, um in Form gegossen zu werden.
Der Kreislauf schliesst sich
Von Alteisen zu flüssigem Stahl zu hartem Stahl: In weniger als zwei Stunden hat sich der riesige Schrotthaufen an diesem kalten Novembertag in 14 Meter lange glühende Knüppel verwandelt, die nun auf dem Vorplatz der Fabrik auskühlen. Nur schwer kann man der Versuchung widerstehen, mit dem Finger eine Temperaturprobe zu machen. Es wäre eine sehr dumme Idee. Zum Aufwärmen reicht es, sich in einigen Metern Distanz hinzustellen.
Noch ist die Reise des Stahls nicht zu Ende: Im letzten Produktionsschritt entstehen aus den Knüppeln dünne Stahlstäbe und Armierungsstahl. Diese Produkte werden anschliessend in die ganze Schweiz ausgeliefert, wo sie auf Baustellen zum Einsatz kommen. Und eines Tages wird dieses Material in Form von Schrott vielleicht wieder in Gerlafingen angeliefert. Der Schmelzprozess beginnt von vorn. Der Kreislauf schliesst sich.
Ginge es nach den Männern in ihren orangen Anzügen, würde es ewig so weitergehen. Nun ist es an der Politik zu entscheiden, ob auch sie der Schweizer Stahlindustrie eine Zukunft geben will.