Die stille Bibliothek am steilen Ufer des Lago Maggiore passt eigentlich gar nicht zum öffentlichen Bild, das man von diesem umtriebigen Paar hat: Sie ist viel beschäftigte Moderatorin, er der Managing Director des Locarno Film Festivals – und vieles mehr. Dennoch ist dieser Rückzugsort für Raphaël Brunschwig (40) und seine Frau Maria Victoria Haas (44) zentral. Denn von Büchern über Philosophie und Psychologie sind sie angetan. Es ist kein Zufall, sie in der Eranos-Stiftung in Moscia TI bei Ascona zu treffen, wo Brunschwig ehrenamtlich als Stiftungsrat amtet. Hier in der «Casa Gabriella» trafen sich bereits in den 1930ern wichtige Intellektuelle wie der Schweizer Psychoanalytiker C. G. Jung, um «Freiraum für den Geist» und eine «Begegnungsstätte zwischen Ost und West» zu schaffen. Die Erkenntnisse hielten sie in Jahrbüchern fest, die bis heute nachgeführt werden – und spannende Lektüre sind. «Hier fühle ich mich wie zu Hause», sagt Raphaël Brunschwig. «Hierhin komme ich, um zu arbeiten, zu lesen oder zu meditieren und herunterzukommen vom frenetischen Leben, das meinen Berufsalltag charakterisiert.»
Im Moment gehört der Tessiner zu den gefragtesten Kulturmanagern der Schweiz: Während des pulsierenden Locarno Film Festival sind sein Terminkalender übervoll und die Nächte kurz. Obwohl roter Teppich und Cüpli-Events eigentlich nicht sein Ding sind: Brunschwig ist omnipräsent. «Kontaktpflege ist alles für meine Tätigkeit», sagt er. «Ich muss dafür sorgen, dass die Organisation läuft, die richtigen Leute an den richtigen Stellen sind. Und ich unterstütze die Arbeit von Giona A. Nazzaro, dem künstlerischen Leiter des Festivals, damit möglichst viele Leute die Auswahl von über 200 Filmen sehen.»
Brunschwigs Job ist einer mit viel Verantwortung. Er verwaltet ein jährliches Budget von 18 Millionen Franken und führt ein permanentes Team von 50 Personen. Während des Festivals wächst dieses auf über 900 Mitarbeitende an. Dazu pflegt er das Ökosystem von über 200 Partnern, das er mit aufgebaut hat. Private Sponsoren wie auch öffentliche Förderer gehören dazu. Mit ihnen entwickelt er neue Geschäftsmodelle, um das Locarno Film Festival für die digitale Zukunft fit zu machen. Er gilt dabei als erfolgreich und wurde vor drei Jahren von Digitalswitzerland als «Digital Shaper» ausgezeichnet.
Zwischen Job und Familie
Dieser umschwärmte Top-Kadermann ist nebenbei auch noch Präsident der Eventi Letterari Monte Verità, eines der angesehensten Festivals für Literatur und Philosophie der Schweiz. Und er führt als Co-Präsident Swiss Top Events, den Zusammenschluss acht hochwertiger Schweizer Kultur- und Sportevents. Fast überraschend kommt da die tiefsinnige und feinfühlige Seite dieses Machers. «Raphaël ist ein unglaublich geduldiger Mensch mit einem feinen Gefühl für Situationen», sagt seine Frau Maria Victoria. «Aber er kann auch sehr hartnäckig sein, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat.» Nicht zuletzt dieser Eigenschaft ist es zu verdanken, dass er ihr Herz erobert hat. Seit acht Jahren ist der Festival-Leiter mit der Journalistin und Moderatorin liiert. Sie haben eine sechsjährige Tochter, Leonor, und leben in Locarno unweit der Piazza Grande. «Wir haben uns im Rahmen eines Anlasses, den sie moderierte, kennengelernt», erzählt Raphaël. «Ich habe mich sofort in sie verliebt, aber leider wollte sie am Anfang nichts von mir wissen.» Nach einigen Monaten sprang der Funke auf die attraktive Bündnerin über, die zurzeit noch Theologie und Philosophie studiert.
Die beiden Vielbeschäftigten sind oft unterwegs und müssen sich über die Organisation des Familienlebens genau absprechen, was nicht immer einfach ist. «Wenn man sich mit Leidenschaft, einem starken Team und in einem spannenden Umfeld für etwas einsetzt, an das man glaubt, geht das zulasten der Freizeit», sagt Raphaël fast ein bisschen entschuldigend. Zum Glück gibts da noch das gemeinsame Hobby, das ihn mit seiner Frau verbindet: die Philosophie. Zusammen erkunden die beiden jungsches Gedankengut. «Wir leben in einer extrovertierten Welt», sagt Raphaël. «Gleichwohl gibt es Dimensionen in den Innenwelten der Menschen, die das Leben beeinflussen. Auch in meiner Arbeit finde ich es wichtig, zu versuchen, ein Gleichgewicht herzustellen. Ich will nicht nur das Objektive, Beweisbare in Entscheidungen einbeziehen, sondern auch das Subjektive, nicht Messbare.»
Aufgewachsen im Rustico im Wald
Topmanager auf Brunschwigs Level glänzen oft mit glorreichen Lebensläufen und hart erarbeiteten Titeln und Diplomen. Anders Raphaël Brunschwig: «Eigentlich habe ich nicht viel gemacht, bevor ich zum Locarno Film Festival gekommen bin», sagt er. «Aus einer achtmonatigen Stage, die ich für meine Maturaarbeit bei der Vermarktungsagentur Publisuisse absolvierte, wurden 10 Jahre dort als Berater. Durch Zufall landete ich beim Locarno Film Festival, weil dieses einen Sponsoring-Assistenten suchte, der sich um kommerzielle Partnerschaften kümmern sollte. Fünf Jahre später verliess mein damaliger Chef das Festival. Da bot mir Marco Solari den Posten als Chef Operating Officer an – der heute in Managing Director umbenannt wurde.»
So schnörkellos die berufliche Laufbahn des Festival-Leiters, so vielschichtig seine persönliche Lebensgeschichte: 1984 wurde Raphaël Brunschwig als Sohn von Zürcher Eltern geboren. Als er noch ein kleiner Bub war, beschlossen diese, die Deutschschweiz zu verlassen. Im Val Colla, einem bergigen Seitental bei Lugano, wollten sie weit abseits der Zivilisation ein neues Leben beginnen. «Ich wuchs in einem Rustico im Wald auf», erzählt Brunschwig. «Erst als meine beiden Geschwister und ich in die Schule mussten, kamen wir wieder mehr in Kontakt mit dem Leben der modernen Welt.»
Diese hat er sich längst zu eigen gemacht. Während er in seiner Kindheit im Wald kaum Freunde hatte, wie er sagt, verbrachte er die Jugendjahre oft in Milano. Und heute zählt die internationale Kultur-, Polit- und Wirtschaftselite zu seinem Bekanntenkreis. Dennoch möchte er die Ruhe im Leben nicht missen. «Ich bin eher introvertiert», so Brunschwig, «daher muss ich für meinen Job oft meine Komfortzone verlassen. Was ich auch durchaus spannend finde.» Doch dann ist da ja immer auch der stille Rückzugsort am See.