Bücherregale in Ferienwohnungen sehen überall gleich aus: Meist steht da irgendwas von Paulo Coelho, ein Krimi mit dem Wort «Tod» im Titel und eine Biografie eines Fussballers, Politikers, Rockstars. Die kleine Bibliothek in unserem Apartment im Agriturismo Casa Bivignano bietet für einmal andere Geschichten. Ihre Helden und Heldinnen heissen Britta, Blitz, Bille und Zottel – und der Anblick dieser Bücher wirft mich mit der Zeitmaschine zurück in meine Kindheit. Bille war meine beste Freundin und Zottel das Pony, das ich mir so sehnlichst selbst gewünscht hatte. Diese Tage in der Toskana sind seit mehreren Jahren wieder mal die Gelegenheit, die Reithosen und Stiefeletten anzuziehen und herauszufinden, ob mich die Pferdewelt immer noch begeistert. Kleiner Spoiler: aber sicher doch!
Aus Jux besichtigten sie mit dem Makler den Hof: «Wir hatten ja keinen Rappen auf der Seite»
Man muss nicht zwingend Pferdemensch sein, um in der Casa Bivignano Ferien zu machen. Das Agriturismo von Patricia und Stephan Wanner ist auch prima geeignet, sich für eine Woche von der Welt zu verabschieden. Bei der Anfahrt wird uns erst so richtig bewusst, wie abgelegen der Hof der beiden Schweizer liegt. In Arezzo haben wir nochmals kurz mit Patricia telefoniert, um nach dem Weg zu fragen. Das Navigationsgerät kennt die Adresse nämlich nicht.
Die letzten fünfzehn Minuten geht es auf einer staubigen Kiesstrasse aufwärts, der Hof liegt auf 730 Metern über Meer. Ab und zu passiert man ein Haus, aber vor allem fahren wir durch Laubwälder. Und unvermittelt trippelt eine Wildsau mit ihrem Nachwuchs – die Schwänzchen haben sie aufgerichtet wie kleine Antennen – über unseren Weg. Es scheint so, als wären wir in der Wildnis angekommen.
Als Patricia und Stephan diese Fahrt 2007 erstmals mit einem Makler machten, um das heruntergekommene Bauernhaus zu besichtigen, dachten sie nicht ernsthaft an einen Kauf. «Wir hatten ja keinen Rappen auf der Seite», erzählt sie. Eine englische Bank machte das Unmögliche möglich, und die beiden bauten ihren Pferdehof so auf, wie sich das Patricia erträumt hatte.
Sie war auch eines dieser Ponymädchen: aufgewachsen in Basel, in einer Familie, in der sich niemand für Reiten und Pferde interessierte. Ihr Vater ist der legendäre Fussballspieler Karl «Karli» Odermatt. Er besucht seine Tochter meist einmal im Jahr, geht in den Wäldern Pilze sammeln und geniesst das italienische Lebens - gefühl. «Von der Art her sind wir uns sehr ähnlich», sagt Patricia. «Wir setzen uns beide mit Feuer und Flamme für das ein, was wir lieben.»
Ohne diese Energie hätten die beiden Auswanderer die letzten dreizehn Jahre in Italien auch gar nicht überstanden. Vor allem nicht die beiden Lockdowns, als es finanziell richtig eng wurde. Patricia lancierte ihren Plan B, und dank Spenden von Gästen und Freunden konnten das Futter und der Hufschmied für die zwanzig Pferde bezahlt werden. Wenn sie an diese Monate denken, wird Stephan noch etwas stiller als sonst, und Patricias Augen bekommen einen feuchten Glanz. Die meisten ihrer Pferde sind Criollos aus Uruguay, eine zähe, ausdauernde Rasse. Sie leben neben dem Wohnhaus in einem Offenstall, verteilt auf zwei Herden und auf zwanzig Hektaren. Der viele Platz ist für Patricia wichtig: «Unsere Pferde müssen mit wechselnden Reiterinnen und Reitern zurechtkommen, das ist nicht immer einfach.» Fühlt sich ein Tier in dieser Aufgabe nicht wohl, wird für es ein guter Platz gesucht. Meist sind es Gäste, die ein Pferd kaufen – unter der Bedingung, dass es im Offenstall leben muss und nicht weitergegeben werden darf.
Am Abend vor dem Ausritt – Stephan serviert ein viergängiges toskanisches Menü – spielt Patricia die Kupplerin. Sie überlegt sich leidenschaftlich gern, 1 Winzer Federico Pancaro mit seiner Hündin Daphne. An den Reben hängen Merlot-Trauben. 2 In der Gegend von Arezzo. 3 Bei Busatti wird vom Färben des Garns über das Weben der Stoffe bis zur Konfektionierung der Servietten, Tischdecken oder Kissenbezüge alles vor Ort gemacht. 4 Seit dem 13. Lebensjahr macht Nella Bianconi Nudeln und gefüllte Pasta, wie zum Beispiel Girasole mit Ricotta und Auberginen. 5 Tagliatelle mit Pilzen im «La Pieve Vecchia» – dazu gibts den Blick auf das Städtchen Monterchi. 6 Stute Mary Lou ist ein Criollo, eine für ihre Zähheit und Ausdauer bekannte Pferderasse. Textilien aus Anghiari busatti.com Restaurant in Monterchi ristorantelapievevecchia.it welches Pferd zu welcher Reiterin passt. «Wenn mein Gefühl stimmt und die beiden zusammen Spass haben, freue ich mich riesig.»
Für mich hat sie Benito ausgewählt, einen kräftigen, gräulichen Wallach mit langer, schwarzer Mähne und einem imposanten Hals. Eigentlich wollte auch Stephan auf den Ausritt mitkommen, doch die Wasserleitung hat irgendwo ein Leck – wahrscheinlich die Wildschweine –, und er muss sich darum kümmern. «Hier oben wird man automatisch Maurer und Elektriker», sagt er mit einem Schulterzucken. Er war früher Bäcker-Konditor. Pferde spielten in seinem Leben lange Zeit keine Rolle. Erst als Stephan 2015 Patricia kennenlernt, beginnt er zu reiten und kauft sich ein eigenes Pferd. «In jedem Mann steckt doch ein Cowboy.»
Anghiari gehört zu den schönsten Orten Italiens – seine Bellezza zeigt sich auch in den Bewohnern
An die Cowboys muss ich später wieder denken, als wir über steinige Trampelpfade reiten. Benito hat einen raumgreifenden Schritt. Trittsicher bewältigt er steile, steinige Passagen. Die Landschaft hier hat etwas Wildes, Freies. Im Frühling blüht der Ginster, jetzt im Spätsommer sind die Büsche und Gräser beige und goldfarben. Ganz oben auf dem Berg angekommen, blickt man über die bewaldeten Hügelketten und erlebt die Toskana mal von einer anderen Seite.
In den folgenden Tagen wollen wir die Umgebung erkunden. Als Erstes nimmt uns Stephan mit auf die Fattoria Il Muro bei Arezzo. Das Landgut gibt es seit 200 Jahren, doch Federico Pancaro ist seit Langem wieder der Erste in der Familie, der den Wein selbst keltert. Er ist in Florenz aufgewachsen, hat sich nun aber für das Landleben entschieden. Das Gut befindet sich im Chianti-Gebiet, für Pancaro ein zweischneidiges Schwert. Er profitiert zwar von der bekannten Provenienz, aber gleichzeitig will er als Winzer auch neue Wege gehen. Er setzt neben dem Chianti auf leichte, fruchtige, süffige Weine. Ausserdem stellt er auf biologischen Landbau um: «Man kann sich nicht auf der Vergangenheit ausruhen. Ich suche die Balance zwischen Tradition und Innovation.»
Wie dieser Anspruch meisterlich gelingt, erleben wir einen Tag später bei Busatti in Anghiari. Das Städtchen gehört zu den «I borghi più belli d’Italia», den schönsten Orten Italiens, und seine Bellezza scheint sich auch in den Bewohnern niederzuschlagen. «Der Rhythmus des Lebens hier ist so entspannt», findet Cinzia Chessa, die wir beim Mittagessen kennenlernen. Sie und ihr Partner sind vor dreizehn Jahren vom hektischen Mailand nach Anghiari gekommen. Zusammen führen sie das Restaurant Il Feudo del Vicario und betreiben daneben ein Tattoo-Studio.
Zurück zu Busatti. Am Haus des Textilfachgeschäfts steht gross «1842» geschrieben. Als wir wenig später in Begleitung von Geschäftsführer Michelangelo Formica im Keller die Produktion besichtigen, sind wir sprachlos. Hier werden alle Stoffe für die Tisch- und Bettwäsche, Polster oder Vorhänge selbst gewoben. Sogar das Garn wird eigenhändig gesponnen und gefärbt. Die Kundschaft setzt sich aus Touristen und einheimischen Signoras zusammen, die den Leinen- und Baumwollstoff gern als Meterware kaufen. Doch die Produkte werden auch als Spezialanfertigungen beispielsweise in die Hamptons geliefert. «Ralph Fiennes war grad kürzlich da», bemerkt Formica en passant. «Er ist dabei, sich ein Haus in der Gegend zu kaufen.» Gute Wahl, möchte man dem Schauspieler zurufen, ihn aber auch bitten, keinen zu grossen Wirbel zu veranstalten. Die Gegend hat bereits ihre Stars. Und zwar so unscheinbare wie die 82-jährige Nella Bianconi, die täglich acht Stunden in der Küche des Restaurants La Pieve Vecchia in Monterchi steht und von Hand Tagliatelle und Ravioli formt.