Mission erfüllt. Als Urs Lehmann, 51, Abfahrtsweltmeister von 1993, vor 12 Jahren das Präsidium von Swiss-Ski übernimmt, ist der Rückstand in der Nationenwertung des alpinen Weltcups auf die dominierenden Österreicher riesig: Auf ganze 6878 Punkte kommen die Schweizer Athletinnen und Athleten, auf 10 842 das Austria-Kader. Ende des vergangenen Winters liegt die Schweiz mehr als 1000 Punkte vor den Rivalen. Machtwechsel! Lehmann, im Hauptberuf CEO des Herstellers homöopathischer Arzneimittel Similasan, hat sein Ziel als Verbandschef erreicht.
Urs Lehmann, jeder kennt den Stanley Cup, die Wimbledon-Trophäe oder den Henkelpott der Champions League, aber kaum einer den Ski-Nationenpokal. Woran liegts?
Völlig klar: Die Österreicher haben ihn eben 30 Jahre lange bei sich versteckt … (lacht) Im Ernst: Ich hatte ihn zuvor auch noch nie gesehen. Sein ideeller Wert wurde bisher wohl massivst unterschätzt. Selbst von mir, muss ich jetzt sagen, wo ich sehe, was der Gewinn der Nationenwertung innerhalb von Swiss-Ski und insbesondere im Marketingbereich ausgelöst hat.
Die Athleten scheint es aber überschaubar zu interessieren, im Gegensatz zum Publikum.
Verständlich. Skifahren ist zuerst Einzelsport. Wenn das Team gewinnt, du aber deine Leistung nicht gebracht hast, interessiert dich die Teamwertung kaum. Erst wenn du deinen Teil beigetragen hast, schätzt du sie auch. Ich weiss aber auch ums öffentliche Interesse für diese Länder-Rangliste. Jedes Wochenende haben mich Hunderte SMS erreicht zum Thema Nationenwertung. So achten wir schon darauf, dass sich die Aktiven nicht unbedacht dazu äussern. Österreichs Verbandschef Peter Schröcksnadel, ein sehr cleverer Mann, hat nicht zufällig immer viel Wert auf sie gelegt.
Wie rechnet sich die Bedeutung in Franken?
Schwierig, aber sicher ist, dass der Gewinn des Nationenpokals Swiss-Ski hilft, sich finanziell für die Zukunft noch weiter abzusichern, was gerade aktuell im herausfordernden Covid-19-Umfeld sehr wertvoll ist. Wir erhalten Anfragen für neue Partnerschaften oder frühzeitige Vertragsverlängerungen. So können wir den Athleten Kontinuität zusichern und sie auch bei weiteren Abgaben und Kosten entlasten.
Wo orten Sie den Schlüssel zum Erfolg der Alpinen in der Saison 19/20? Nur Hirschers Abgang beim Rivalen kanns ja nicht sein.
Ehrlicherweise muss man schon sagen, dass sie das geschwächt hat. Wir kennen das Phänomen etwa von der Zeit nach Cuches Rücktritt 2012. Fällt so ein Leader plötzlich weg, fehlt denen dahinter der Windschatten. Und damit werden nicht alle gleich gut fertig. Bei unseren Stärken gibt es drei Aspekte: Erstens konnten die Arrivierten wie Beat Feuz oder Wendy Holdener die seit Jahren starken Leistungen weiter abrufen. Zweitens haben sich Verschiedene, die man schon länger ganz oben erwartet hatte, im Sog des Teams endgültig an der Spitze etabliert, wie Corinne Suter oder Mauro Caviezel. Drittens sind junge Athletinnen und Athleten aufs Podest gefahren, die man noch in der zweiten Reihe wähnte, etwa Joana Hählen. So gabs eine massive Verdichtung für Swiss-Ski in der Weltspitze. Ausserdem muss man der Fairness halber einräumen, dass wir, im Gegensatz zu unseren Rivalen, von gröberem Verletzungspech während der Saison weitgehend verschont geblieben sind. Nun müssen wir im nächsten Schritt schauen, dass auch im Europacup unsere Dichte wieder zunimmt. Sonst tut sich hinter den Weltcup-Startern ein Loch auf. Auf Stufe Europacup besteht erheblich Nachholbedarf.
Bezüglich Zeitpunkt des Machtwechsels war ja Ihre eigene Prognose nicht ganz richtig.
(lacht) 2018 sagte ÖSV-Chef Schröcksnadel zu mir, dass er zurücktrete, sobald die Schweiz Österreich überhole. Ich entgegnete, dann habe er nur noch drei Jahre. Nun waren wir sogar ein Jahr schneller. Auch okay.
Weil der viel zitierte Unterbau im Nachwuchs bei uns jetzt tatsächlich auch Früchte trägt?
Ich bin dieser Meinung, ja. Es brauchte seine Zeit, bis die 2007 entworfene Nachwuchspyramide gebaut war. Eine Joana Hählen etwa kam genau damals in diese Nachwuchsstruktur. Der nochmalige Rückschlag 2013 liess uns die Strukturen weiter schärfen. Mit Top-Trainern und Betreuern ist uns das nachhaltig gelungen. Heute sind viele meiner «Traumtrainer» bei uns angestellt. Wir sind als Arbeitgeber offensichtlich wieder attraktiver geworden.
Zur rosigen Zukunft des Schneesports in der Schweiz beitragen soll auch die grosse Fundraising-Aktion mit dem Verkauf der Supporter-Sticker (siehe Box/Red.), eine Aktion aus der Not oder aus der Stärke heraus?
Eindeutig aus der Stärke. Die Stiftung Passion Schneesport und wir wollen die Euphorie nutzen. Der Ertrag wird helfen, jene Talente noch stärker zu unterstützen, die sich den Skisport nur schwer leisten können. Wir spüren auch da extremen Goodwill und Support durch Partner, Verkaufsstellen oder Preisspender.
Swiss-Ski ist wieder so «sexy», dass man sich sogar die kleine Spitze mit der Nummer-eins-Mütze erlauben kann. Ihre Idee?
Ich weiss gar nicht mehr… (lacht) Es war aber auch keine Spitze gegen irgendwen, sondern einzig ein Signal der Freude an uns selber.
«Wir sind stolz auf die Ausbeute über alle Disziplinen. Die Schweiz ist Schneesport-Nation Nummer 1»
Damit hat Ihre Mission als Swiss-Ski-Chef eigentlich den Zenit erreicht. Der perfekte Zeitpunkt, um zur FIS zu wechseln.
«Zenit» gefällt mir nicht. Das impliziert, dass es nicht mehr höher gehen kann und ich sofort aufhören soll. (lacht) Ein Höhepunkt — ja. Aber der Zenit? Wir sind bereits am Umsetzen der nächsten Schritte bei Trainingsstrukturen und Nachwuchsausrichtung. Und wir haben in den nächsten Jahren die Organisation von Weltmeisterschaften bei den Alpinen, im Biathlon und im Freestyle in der Pipeline, eventuell in etwas fernerer Zukunft auch bei den Nordischen. Von mangelnden Zielen kann also keine Rede sein. Ich könnte mir auch sehr gut nochmals vier Jahre an der Spitze von Swiss-Ski vorstellen, um mitzuhelfen, das nächste Level zu erreichen.
Trotzdem steht Ihre Kandidatur bei der FIS?
Ja, bei der Wahl im Juni trete ich als Kandidat fürs FIS-Präsidium an. Meine initiale Mission bei Swiss-Ski wäre erfüllt, der Verband ist gesund, das System funktioniert auch nach meinem allfälligen Abgang. Ich bin da im Einklang mit Funktionären und Präsidium. Und viele Athleten ermuntern mich zum Schritt zur FIS, weil man dort Handlungsbedarf erkennt.
Eine neue Mission bei der FIS, oder das
Anpeilen des nächsten Levels mit Swiss-Ski — was reizt Sie mehr?
Ich habe ein Sportlerherz und bin gern bei Swiss-Ski um Athleten herum, für die ich weiter viel bewegen kann. Bei der FIS geht es um ein System und Strukturen, die man verbessern muss. Eine spannende Challenge. Beides hat seinen Reiz. Ich kanns schlecht abwägen.
Ihre Nachfolge bei Swiss-Ski wäre geregelt?
Ja, das wäre sie. Der aktuelle Vizepräsident Peter Barandun wäre die ideale Lösung. Er ist durch seine Kinder mit dem Sport verbunden und als Elektrolux-VR-Präsident wirtschaftlich sehr gut vernetzt. Er kennt unser System, ein Unternehmen mit 500 Athleten, Betreuern und Funktionären sowie rund 60 Millionen Umsatz, von innen heraus.
Der Streit dieses Frühjahrs mit dem Lauberhorn-OK um die Vermarktungseinnahmen scheint beigelegt. Wirkt er noch nach?
Es hat tatsächlich sehr viel Energie gekostet, weils eine Zeit lang das wichtigste Thema für uns war. Wäre Wengen mit seiner Forderung vor Gericht durchgekommen, hätte das wohl fatale Folgen nicht nur für Swiss-Ski gehabt. Wir mussten den Streit eskalieren lassen.
Lehmann als harter Hund …
Es war mir keineswegs egal, die Position der Härte einzunehmen. Aber sie war in der Sache einfach gefordert. Auch mir lag und liegt das Lauberhorn zu jeder Zeit sehr am Herzen. Aber nicht um jeden Preis. Wir machten einen Vorschlag, wie sie ihr grosses Defizit mit unserer Hilfe hätten beheben können. Aber sie lehnten aus emotionalen Gründen ab. Das geht einfach nicht. Das war nicht nur meine Haltung, sondern die von ganz Swiss-Ski. Nach der Einigung sollte das Lauberhorn unter normalen Umständen nun für die nächsten Jahre gesichert sein. Nun blicken beide Seiten positiv nach vorne.
Hand aufs Herz: War die Gefahr eines Skiwinters ohne Lauberhorn wirklich je real?
Davon können Sie ausgehen. Auch wenn es nie mein Wunsch war, so gehe ich doch nie in solche Verhandlungen ohne einen Plan B in der Hinterhand. Das wäre nicht seriös.
Nun weiss man ja nicht, was Corona aus dem bevorstehenden Skiwinter macht. Wie sehr sind die vielen Schweizer Events gefährdet?
Der gesamte Ski-Weltcup sitzt im gleichen Boot, für das die jetzige Situation existenzielle Fragen aufwirft. Wir haben bei uns vorsorglich alle Veranstaltungen ohne Zuschauereinnahmen geplant. Gibts doch Publikum, bedeutet das für die jeweiligen OKs zu-sätz-liche Deckungsbeiträge. Der Anteil, den der Skisport in der Schweiz aus den 100 Millionen für den Sport vom Bund erhält, geht vollumfänglich an die Veranstalter. Ich mache mir durchaus Sorgen, aber es sieht derzeit aus, als könnten die Schweizer Rennen durchgeführt werden.
Gefahr drohte Swiss-Ski zuletzt immer wieder auch durch erhebliche Misstöne, die es innerhalb des Verbandes zwischen Athleten, Trainern und Funktionären gab. Nun herrscht Harmonie. Nur dank der jüngsten Erfolge?
Ich denke, das ist nicht erst seit der vergangenen Saison so. Den letzten Fall von Unruhe gabs um die Ski-WM in St. Moritz. Nach diversen Interna, die an die Öffentlichkeit gedrungen waren, stellte ich klar, dass künftig entlassen wird, wer solche Informationen nach aussen trägt. Als Feuz-Trainer Sepp Brunner, den ich ansonsten schätze, Unstimmigkeiten im Speed-Team über den Boulevard publik machte, musste er konsequenterweise gehen. Das hat entscheidend beigetragen dazu, dass wir heute Ruhe haben.
Die neuerlichen Dissonanzen dieses Sommers rund um Lara Gut-Behrami und die Anstellung ihres Vaters also nur als kleiner Rückfall?
Mittlerweile hat da auch die mediale Wahrnehmung ein wenig geändert. Es herrscht heute mehr Verständnis für die Haltung des Verbandes, der die Chancengleichheit und Fairness innerhalb der Kader sicherstellen muss. Wir sind inzwischen nicht mehr automatisch die Bösen.
«Bleiben wir von gröberen Verletzungen verschont, spricht vieles dafür, dass wir auch dieses Jahr die Nummer 1 sind»
Unterschiedlich Freude dürften Swiss-Ski die einzelnen Disziplinen machen. Vergangenen Winter holte die Schweiz zwar total 16 Kristallkugeln, davon zehn nicht-alpine, und ist, vor Norwegen, die erfolgreichste Schneesportnation überhaupt. Aber die Nordischen tragen dazu so gut wie nichts bei.
Swiss-Ski ist tatsächlich sehr stolz auf die Ausbeute quer über die Disziplinen. Noch nie gabs in einer Saison so viele Kugeln für uns. Natürlich überstrahlen Erfolge im Alpinbereich ihrer Bedeutung wegen immer alles. So ist leider Fakt, dass etwa die unfassbar starken Leistungen einer Amélie Wenger-Reymond wegen der fehlenden Bekanntheit von Telemark fast völlig untergehen. Was die Nordischen betrifft, so stimmt Ihre Feststellung. Für sie gilt heute, was ich vor einigen Jahren über die Alpinen gesagt habe: Gemessen an den eingesetzten Mitteln, kommt viel zu wenig zurück. Bei den Kombinierern haben wir nicht einmal mehr ein Kader. Immerhin gibt es gute Ansätze, zählt man die Biathleten dazu.
Wo haperts?
Schwer zu sagen. Ich muss einfach feststellen: bezüglich Infrastruktur, Training und Material wären wir auf Augenhöhe mit den Besten.
Glauben Sie an die Nordisch-WM in Oberstdorf und jene der Alpinen in Cortina?
Wenn es irgendwie geht und zu verantworten ist, müssen diese WMs unbedingt stattfinden.
Bei aller Ungewissheit: Der Einstieg in den Winter ist in Sölden extrem gut gelungen. Ihr Fazit dieser Riesenslaloms?
Super! Ich war sehr nahe bei den Teams und total begeistert. Es herrscht ein völlig neues Mindsetting. Nicht nur bei den Arrivierten. Abfahrerin Priska Nufer etwa startet mit einer Nummer um 60 und wird 20. Alle haben extrem Lust, weiter auf der Erfolgswelle zu reiten. Sie wirken, als wären sie unbesiegbar.
Dann dürfen wir Sie also in einem Jahr erneut mit dem Nationenpokal fotografieren?
Dafür spricht vieles, bleiben wir von Verletzungen einigermassen verschont. Wir haben eine junge, sehr gut durchmischte Mannschaft und kaum substanzielle Abgänge nach der vergangenen Saison. Viele Athletinnen und Athleten von Swiss-Ski werden noch stärker sein. Kommt dazu, dass wir während Corona in Zermatt und Saas-Fee die besten Trainingsbedingungen von allen hatten. Die Österreicher werden zwar auch einen Schritt vorwärts machen, aber sie bräuchten zwei, um uns einzuholen.