Wir machen mit ihm die Einkäufe, testen und verbessern mit ihm unsere Fitness. Wenn wir nicht gerade im Homeoffice sind, fahren wir damit zur Arbeit – oder wir schalten in der Natur ab. Das Velo ist eben ein Alleskönner. Die Corona-Pandemie hat die Schweizer Veloliebe nochmals neu entfacht: Die Radgeschäfte und Velomechaniker versinken in Arbeit, das Material ist schweizweit an verschiedenen Stellen ausverkauft. Doch Schweizerinnen und Schweizer sind nicht nur viel auf Rädern unterwegs, sondern auch äusserst gut und ambitioniert. Schweizer Spitzensportlerinnen und Spitzensportler gewannen im Jahr vor der Pandemie 2019 in allen Rad-Disziplinen in der Elite insgesamt 22 Medaillen an Grossanlässen.
Ob Stefan Küng, Jolanda Neff oder Nino Schurter – die Stars aus den olympischen Velodisziplinen kennt hierzulande fast jedes sportliche Kind. Dass die Schweiz mehrfacher und aktueller Weltmeister im Einrad-Hockey ist, weiss hingegen kaum jemand. Ebenso wenige, dass man mit einem Downhill-Bike gar nicht aufwärts fahren kann. Oder dass es seit zwei Jahren auch im E-Mountainbike einen professionellen Rennbetrieb gibt. Höchste Zeit, verschiedene Athletinnen und Athleten aus nicht-olympischen Rad-Sportarten vorzustellen – damit sie uns die Eigenheiten ihrer Disziplin und ihre Faszination dafür näherbringen können. Eines haben alle gemeinsam: weltmeisterliches Niveau!
Camille Balanche, 31, MTB-Downhill
«Ich habe von Eishockey über Volleyball bis Fechten schon so vieles ausprobiert. Ich fing mit Biken an, später fuhr ich Enduro-Rennen, eine Mischung aus Downhill und Cross Country. Dann bin ich zum Downhill gekommen – um zu bleiben. Ich liebe, dass ich meinen Beruf nun draussen in der Natur und immer wieder an neuen Orten ausüben kann. Mir ist nicht nur der Leistungsaspekt wichtig im Sport, sondern auch der soziale. Wenn alles rundherum stimmt, fühle ich mich wohl. So ist es im Downhill. Die Atmosphäre in der Szene ist entspannt und freundschaftlich. Obwohl es ein Einzelsport ist, fühlt es sich an wie ein Teamsport. Vielleicht, weil wir im Wettkampf nicht physisch gegeneinander fahren. Jeder versucht einzeln sein Bestes. Ich mag, dass mich mein Sport immer wieder neu herausfordert. Und den Adrenalinkick, wenn ich schnell hinunterfahre. Am Anfang hatte ich richtig Angst, mittlerweile weiss ich besser, was ich mir zutrauen kann. Ich würde sagen, es ist ein kalkuliertes Risiko. Mein Körper ist mein Kapital, und ich will noch lange Sport treiben. In der Schweiz wissen viele nicht genau, wie Downhill funktioniert. Erklärt ist es einfach: wie die Abfahrt im Skifahren – auf zwei Rädern. Das Velo ist einem Motocross-Töff ähnlich – einfach ohne Motor. Es hat sehr viel Federweg, und Aufwärtsfahren etwa würde nicht gehen – dafür sind die Gänge viel zu gross. Der materialtechnische Aspekt fasziniert mich sehr. Ich schraube und tüftle in meinem Materialraum im Keller an meinen Velos herum, lese viele Artikel und schaue mir oft online Erklärvideos an. An den Rennen habe ich jedoch einen Mechaniker, der alles macht. Mein Ziel ist es, die beste Einstellung für mich selber zu finden, so dass ich mich auf dem Bike wohl fühle. Denn an der Spitze haben alle gutes Material. Es ist nicht wie in der Formel 1, wo man je nach Gefährt gar keine Chance hat. Entscheidend ist für mich, in der Fahrtechnik weiter Fortschritte zu machen. Da ich relativ spät erst mit Velofahren begonnen habe, gibts da noch grosses Potenzial. Wenn ich dort Fortschritte mache, kann ich noch mehr Risiko nehmen in den Rennen. Weltmeisterin bin ich zwar schon – und das war bisher der sportlich schönste Tag in meinem Leben. Doch ich habe immer noch viele Ziele. Ich möchte mich etwa konstant an der Spitze etablieren, auch im Weltcup. Ich sitze übrigens nicht nur auf dem Downhill-Bike, ich habe noch viele andere Velos zuhause: ein Fixie für in die Stadt, ein Enduro, ein Dirtbike, ein E-Bike und ein Rennvelo. Ich liebe die Vielfalt, so wird es mir in diesem Sport eben garantiert nie langweilig.»
Ramona Forchini, 26, MTB Cross Country / MTB Cross Country Marathon
«Als ich erstmals an einer Schweizermeisterschaft im Bike-Marathon teilnahm – das war im September 2020 – dachte ich: ‹Nie mehr!› Es war so anstrengend. Dass ich einen Monat später Marathon-Weltmeisterin wurde – unglaublich. Ich kann es mir heute noch nicht ganz erklären. Besonders aufgrund der Vorgeschichte. Ich hatte die Saison wegen gesundheitlichen Problemen eigentlich schon abgeschrieben. Ein abszedierter Lymphknoten unterhalb der Leiste machte mir Mitte Jahr zu schaffen. Die Ursache unklar. Die Vermutung: ein Insektenstich am Knie. Doch die Genesung dauerte lange. Die Entzündung war schmerzhaft und extrem mühsam. Ich durfte keinen Sport treiben. Eine Antibiotika-Kur nützte nichts, Lymphdrainage machte alles schlimmer. Die Ärzte sahen eine Operation als einzige Möglichkeit. Ich entschied mich jedoch dagegen und gab meinem Körper Ruhe. Nach über zwei Monaten Ungewissheit gings bergauf und ich konnte wieder trainieren. Für den Renneinstieg rieten mir mein Trainer und mein Team, an der SM im Marathon teilzunehmen. Dieses Rennformat dauert zwar länger, ist jedoch von der Spitzenintensität tiefer als im Cross Country. Dank diesem Rennen qualifizierte ich mich daraufhin für die WM im Marathon. Dort fuhr ich ganz ohne Druck und Erwartungen hin – und gewann! Auch der Werdegang zur Spitzensportlerin hat sich bei mir irgendwie so ergeben und ist nicht die Folge eines konkreten Planes. Wie fast alle hier im Dorf war ich früher im Turnverein, bis mein Turnlehrer meinte, ich solle mal ‹etwas Gescheites› machen. Also nahm ich mit dreizehn Jahren an meinem ersten Velorennen im Nachbarsdorf teil. Mein Velo mit Ständer, Gepäckträger und Schutzblech war alles andere als ein Hingucker, wie ich dann bemerkte. Doch das Biken machte mir Spass. Eine weitere wegweisende Entscheidung traf ich nach der Schulzeit. Seit klein auf fasziniert mich der Beruf Helikopterpilotin – und das noch heute. Da dies erst als Zweitausbildung möglich ist, interessierte ich mich für die Polymechausbildung mit Instandhaltung Flugzeuge. Doch die Lehrstelle am Flughafen Zürich schlug ich damals aus Angst vor Heimweh aus – ich bin ein echtes Landei. So wurde ich später nach der KV-Lehre unverhofft Profisportlerin. Der Sport gibt mir Freiheit und Grenzenlosigkeit. Ich kann überall durch, von überall aus starten, ich brauche keine Trainingsstätte – die Natur ist sozusagen mein Büro.»
Mirco Weingard, 34, Einrad-Hockey
«Der Anfang war neben Spass auch ein grosser Krampf. Fast bei jedem Schuss lag ich am Boden. Was noch heute schmerzhaft ist im Einrad-Hockey: ein ganzer Tag im Sattel – man kann sich ja vorstellen, wos dann weh tut! Immerhin ist heute unsere Balance, die Koordination und die Wendigkeit auf dem Einrad so gut, dass das Fahren Nebensache ist. Das Rad ist für mich wie für Eishockeyaner die Schlittschuhe. Wir können uns voll auf Stock und Ball konzentrieren. Das liegt mir sowieso – Ballgefühl habe ich ein sehr gutes. Ursprünglich komme ich aus dem Fussball. Ich begann spät im Klub. Als Teenager verletzte ich mir den Fuss. Er war komplett kaputt – und mit ihm meine Zukunft im Fussball. Über Kollegen aus der Nachbarschaft kam ich dann zum Einradfahren und bestritt zuerst Rennen. Hockey spielten wir sowieso immer im Quartier. So kamen wir irgendwann auf die Idee, die zwei Sportarten zu kombinieren, und gründeten ein Team. Von der grössten und organisiertesten Sportart also zu einer der allerkleinsten! Wir haben im Einrad-Hockey lange gekämpft, bis wir überhaupt in einer Turnhalle trainieren konnten. Früher wurden wir auch oft belächelt. Heute gibts zum Glück Youtube. Denn wenn die Leute ein Video sehen, sind sie meistens begeistert. Und andere sind auch stolz auf mich. Meine Arbeitskollegen haben schon zu anderen gesagt: ‹Weisst du eigentlich, dass Mirco dreifacher Weltmeister ist?›. Das freut mich natürlich. Doch wer es wegen der Bestätigung von aussen macht, kommt nicht weit. Denn unser Trainingsaufwand ist normalerweise beträchtlich: Teamtrainings plus individuelle Einheiten auf dem Bike, Rennvelo oder Fitness – ich gehe mindestens fünfmal wöchentlich ins Gym. Da wir jedoch, wie die Schwinger, keine Profis sind, konnten wir seit Beginn der Pandemie fast nicht trainieren. Auch im Moment dürfen wir keine Teamtrainings machen. Zudem muss die WM-Titelverteidigung warten – der Wettkampf wurde zuerst auf dieses und nun bereits auf nächstes Jahr verlegt. Mir fehlt der Sport sehr, denn ich brauche ihn als Ausgleich. Ich arbeite Vollzeit als Projektleiter bei den SBB und bin gerade zuständig für die Betriebseinführung eines neuen Zuges. Apropos Zug: Das Einrad gilt dort nicht als Velo, sondern als Spielzeug. Deswegen braucht man dafür auch kein Billett – nur wissen das meist nicht mal die Kondukteure!»
Vanessa Hotz, 23, Carole Ledergerber, 18, Stefanie Moos, 24, und Flavia Schürmann, 20, Kunstrad
«Was es braucht, um bei uns mitzufahren? Das Wichtigste: Teamgeist. Klar, das Körperliche, wie die Ausdauer, die Balance oder die Spannung, sind essenziell. Doch woran es bei vielen scheitert: Sie sind nicht bereit, so viel zu investieren. Wir sind vier gleichwertige Athletinnen und haben keine Ersatzfahrerin. Das heisst, wir sind alle aufeinander angewiesen. Bei uns vieren hat das Kunstradfahren absolute Priorität. Wir haben einen gemeinsamen Kalender, und alle privaten Aktivitäten, Ferien oder Feste werden miteinander abgesprochen. Viele Aussenstehende können das nicht verstehen. Doch uns ist es den Aufwand wert, auch wenn wir keinen Rappen verdienen. Wir bezahlen sogar vieles selber. Trainings, Kaderbeiträge, viele Reisen an die Wettkämpfe und entsprechend Unterkünfte und Verpflegung. Doch diese Gefühle, wenn man zusammen etwas erreicht hat, sind sowieso unbezahlbar. Wir betreiben eine absolute Randsportart und müssen den Laien viel erklären. Zum Beispiel, dass man im Alltag nicht mit den Kunsträdern fahren kann. Sie haben nur einen Gang – dafür kann man rückwärts fahren –, die Reifen haben kein Profil, und sie dürfen nicht nass werden. Doch der Vorteil einer solch aussergewöhnlichen Sportart: Wir können viele Leute überraschen und begeistern – sei es mit Showauftritten oder Wettkampf-Küren. In dieser Saison ist für uns vieles neu und anders. Denn wir starten in neuer Zusammensetzung und mit neuer Ausgangslage. Zwei von uns, Vanessa und Stefanie, sind sehr erfahren und wurden 2019 gar Weltmeisterinnen im Vierer-Team. Carole und Flavia sind neu dazugestossen, weil in unseren ehemaligen Teams je zwei Sportlerinnen den Sport nicht mehr mit diesem Aufwand betreiben wollten oder konnten. Nun geht es bei uns ums Kennenlernen. Wir ergänzen uns sehr gut, jede übernimmt andere Aufgaben. Sie sind nicht fix aufgeteilt, sondern jede hilft, wo sie kann. Ausser beim Autofahren – weil wir noch nicht alle fahren können – und bei unseren Frisuren: zwei machen die Zöpfli, die anderen zwei die Dutts. Ein ästhetisches Erscheinungsbild bis zum letzten Glitzersteinchen gehört dazu, auch wenn es nicht explizit bewertet wird von den Richtern. Auf was es in der Kür ankommt: Dass wir mit unseren Kunsträdern alle Elemente sauber und synchron ausführen. Stürze, Füsse auf dem Boden oder auch nur eine Hand, die unter Schulterhöhe ist, gibt Abzug. Wir haben also noch viel zu tun, um unser Fernziel zu erreichen, auch in dieser Konstellation an die Weltspitze zu kommen.»
Nathalie Schneitter, 34, E-Mountainbike
«Ich war als Kind nicht besonders sportlich talentiert. Ich war weder schnell, noch hatte ich ein gutes Ballgefühl. Doch auf dem Velo merkte ich: Ausdauer, das ist mein Ding! So begann meine Laufbahn im Mountainbike Cross Country. Dass ich auch einmal E-Bike-Wettkämpfe bestreiten würde, hätte ich nie und nimmer gedacht. Früher fand ich E-Bikes doof. Als ich das erste Mal auf einem sass, entschuldigte ich mich bei allen, die ich überholte. Im Sommer 2016, als ich die Olympiaqualifikation für Rio nicht schaffte – in Peking 2008 war ich dabei –, beendete ich meine Karriere. Ich hatte damals richtig genug vom Leistungssport, wollte nicht mehr so strukturiert trainieren und nicht mehr auf anderes – im Beruf und im Privatleben – verzichten. Zwei Jahre später gab der internationale Verband bekannt, 2019 eine E-MTB-WM durchzuführen. Meine erste Reaktion: ‹Was soll denn dieser Unsinn?› Doch dann fand ich: Wieso probiere ich es nicht selber aus, statt Vorurteile zu haben? Ich merkte sofort: Da steckt viel mehr dahinter, als man denkt. Die Strecken sind so steil und schwierig, die Hindernisse so hoch, dass man sie ohne Motor gar nicht bewältigen könnte. Zudem muss man die eigenen Kräfte sowie die der Batterie einteilen. Alles war neu, ich musste mir praktisch alles Wissen – bezüglich Material, Technik oder Taktik – selber aneignen. Ich war voller Tatendrang, fühlte mich wieder wie als Teenager im Cross Country. Gleichzeitig erlebe ich nun eine ganz neue Dimension des Velofahrens: Früher konnte ich mich beim Aufstieg auskotzen, und bei den Abfahrten spürte ich den Nervenkitzel. Nun sind es die anspruchsvollen Aufstiege, die es ausmachen. E-Biken bedeutet: die vollste Konzentration und zugleich den ultimativen Spass bergauf. Die Disziplin hat mich vollständig in ihren Bann gezogen. Dass ich bei der WM-Premiere des E-MTB dann unverhofft gleich Weltmeisterin wurde, ist natürlich mega schön und das Tüpfelchen auf dem i. Nun hoffe ich, dass die Disziplin auch innerhalb der Szene mehr Akzeptanz findet. Ich werde zum Beispiel gefragt: ‹Bist du nun zu alt und hast nicht mehr genügend Energie, selber zu trampen?›. Damit kann ich umgehen. Aber ich fände es sehr schade, wenn andere wegen solchen Aussagen Berührungsängste hätten, diesen coolen Sport selber auszuprobieren. Der Markt geht mit mir einig: E-Bikes sind voll im Trend. Und ich finde sowieso: Ob Bike, Strassenrad, BMX oder was auch immer – am Schluss sind wir doch alle Velofahrer!»