Auf die Frage, wie es ihm geht, antwortet René Prêtre meistens: «Gut. Die Operationen heute sind gut verlaufen.» Manchmal sagt er auch: «Socheaux gehts schlecht, sehr schlecht.» Nun ist Socheaux kein Kind, sondern ein Fussballclub, der Fussballclub seiner Jugend. Prêtre, 52, wuchs im Jura auf, in Boncourt, 1300 Einwohner, Felder, Wälder, Kühe und Pferde. Noch steht er oft mit seinem 85-jährigen Vater Denis und den Arbeitern der Region an der Bande. Denn René Prêtre hat sein Leben zwei Leidenschaften gewidmet: der Herz-Chirurgie und dem Fussball.
Mittwochmorgen, kurz nach zehn. Prêtre hat eine erste Not-Operation hinter sich. Nun steht er am Waschbecken vor dem Operationssaal Nr. 5. Auf dem Kopf die grüne OP-Haube. Über seiner Schulter baumelt die Brille mit eingebauter Lupe. Sie ermöglicht, dass er später im Halbmillimeter-Abstand im kleinen Kinderherz nähen kann.
Leise surrt die OP-Tür. Auf dem Tisch liegt Luka, 7 Monate, 6,2 Kilo schwer, 64,5 Zentimeter gross. Der Brustkorb ist aufgesägt, mit einem Spreizer leicht geöffnet. Darin pocht sein Herz, pflaumengross und rosa. Gleich wird dieses Herz für zwei Stunden stillstehen. Dann arbeitet René Prêtre zwischen Leben und Tod. Meist siegt das Leben. Weil die kleinen Körper zäh sind und Prêtre ein Ausnahme-Chirurg.
Mit ihm im OP: ein Oberarzt, ein Kardio-Techniker an der Herz-Lungen-Maschine, zwei Anästhesisten, drei Krankenschwestern, ein Medizinstudent. «Um gut zu sein, muss man ohne Emotionen operieren. Sehr pragmatisch, handwerklich.» Gefühle dürfen in dem Moment nur Lukas Eltern haben. Sie warten zu Hause. Nach der OP wird der Arzt sie anrufen.
Seit acht Jahren ist René Prêtre Chefarzt der Herz-Chirurgie am Zürcher Kinderspital (Kispi) und Professor an der Universität Zürich. Der Jurassier gilt als einer der Besten in seinem Fach. Rund 300 Herzen operiert er pro Jahr. In 30 Prozent der Fälle wissen die Ärzte vor der Geburt, ob ein Kind einen Herzfehler hat. Dann findet der Eingriff in der ersten Lebenswoche statt.
Daneben operiert Prêtre jährlich mehr als 80 Erwachsene mit angeborenen Herzmissbildungen oder defekten Herzklappen am Universitätsspital Zürich. Damit er in Notfällen schnell von einem Spital ins nächste kann, liegen in seinem Kofferraum immer zwei Arztkittel mit Ausweis: einer fürs Kispi, einer fürs Uni-Spital.
Prêtre schaut auf den grossen Bildschirm über sich. Durch die Ultraschallsonde in der Speiseröhre von Luka sieht er Bewegung und Blutfluss im Herz. Seine Diagnose: Zwei je sechs mal zwölf Millimeter grosse Löcher im Herz, nur eine Herzklappe statt zwei zwischen den Vorhöfen und den Kammern.
«Okay, jetzt», sagt Prêtre leise. Es ist 11.17 Uhr. Das Ärzteteam hat die Herz-Lungen-Maschine angeschlossen. Sie wird in den nächsten zwei Stunden als externes Herz arbeiten und den Blutkreislauf aufrechterhalten. Lukas Herz fällt in Sekunden als blutleerer Muskel zusammen. «Nach der OP wird er leben wie ein gesundes Kind.»
Der Arzt schneidet Patches zurecht, eine Art Flicken aus Rinderherz, und näht sie mit einer gebogenen Nadel und Faden ins Herz. Ein wenig, wie eine Mutter, die mit einem Stofflappen zerrissene Jeans flickt. Zwei Stunden später spült er eine Salzwasserlösung ins Herz und prüft, ob die reparierten Klappen dicht sind.
Sekunden totaler Anspannung. Dann wird das kleine Herz wieder vom körpereigenen Kreislauf durchblutet, beginnt sofort zu schlagen. Die Herz-Lungen-Maschine kann abgeklemmt werden. Luka lebt aus eigener Kraft. Momente wie dieser haben Prêtre seit seiner ersten Herz-OP fasziniert und nie mehr losgelassen. Es war Liebe auf den ersten Blick, «ich hatte überall Gänsehaut». Gibt es keine Komplikationen, kann Luka in zwei Wochen nach Hause, wie ein gesundes Kind leben, rennen, Fussball spielen.
Prêtre streift die Handschuhe ab. Seine Finger sind kurz, kräftig, mit ganz kurzen Nägeln. Die schwere Brille hat Furchen in den Nasenrücken gegraben. Sein Gesicht ist bleich, verschwitzt. «Ich mache höchstens zwei grosse Operationen am Tag. Dann kann ich exzellent sein. Bei drei OP hätte ich den Eindruck, nur noch gut zu sein.»
Prêtre ist ein kleiner, schmaler Mann. Ohne Allüren. Seine Patienten sind ihm heilig, obwohl sie zu klein sind, um Danke sagen zu können. Sein Erfolg sind nicht Geld und Ruhm. Sein Erfolg ist, dass er seinen Traum lebt: «An der Chirurgie haben mich immer zwei Seiten fasziniert: Das Magische, heilen wie mit dem Zauberstab. Und das Handwerk. Ich habe seit meiner Kindheit mit den Händen gearbeitet. Das prägt.»
«Mein Vater traut mir immer noch nichts zu. Wenn ihm was wehtut, ruft er seinen Veterinär an»
Boncourt. Ein Bauernhof, graue Fassade, es bröckelt der Putz. Prêtre ist bei seinen Eltern zum Sonntagsbesuch. Ex-Frau Gabriela und Tochter Tatiana, 20, sind aus Genf da. Auch zwei Brüder mit Familie. Prêtre dribbelt ein bisschen durch den Garten. Fussball spielt er längst nicht mehr. Zu verletzungsintensiv! Ferien macht er höchstens eine Woche – sonst werden die Finger unbeweglich.
René ist das drittälteste von sieben Kindern. Die Eltern Denis und Bernadette ernähren die Familie von dem, was Hof, Garten und Felder hergeben. Morgens vor der Schule melkt René zwei Kühe, am Abend fünf. Er macht mit seinen Geschwistern Heu, hilft beim Schnapsbrennen. Fünf Mal musste sein Vater – Bauer, Hobby-Historiker und jurassischer Freiheitskämpfer – vor dem Untersuchungsrichter antreten. Er impft den Kindern ein: «Kämpft für das, was euch wichtig ist!»
Für René war das lange der Fussball. «Er hat beim Kirschenpflücken die Früchte immer mit den Blättern abgerissen, damit der Eimer schneller voll ist und er zum Training kann», sagt Mutter Bernadette. «Fussball war seine Leidenschaft».Prêtres Blick streift über die kleine Streuobstwiese hinter dem Haus, die Gemüsebeete der Mutter, die Hauswand. «Hinter dem Fenster haben wir Buben geschlafen, im Zimmer daneben meine Schwestern. Im Winter hatten wir Eisblumen an den Fenstern. Innen.»
Das Medizinstudium war Zufall. Prêtre dachte: «Ich weiss nicht genau, was ich machen will. Aber Medizin klingt gut.» Also studiert er in Genf nebenbei Medizin und spielt hauptsächlich Fussball. «Erst als ich meinen ersten Stage in der Chirurgie hatte, wusste ich: Das ist es!» Er heiratet die Gynäkologin Gabriela, geht nach dem Studium nach New York, operiert, meist nachts, Opfer von Gewalt und Unfällen. Hier holt ihn auch ein Chirurg mit den Worten zu sich: «Du hast gute Hände. Du musst Herzen operieren.»
Um die Töchter Camille und Tatiana kümmert sich Gabriela: «Ich war immer allein mit den Kindern. Das war nicht einfach. René ist Arzt aus Leidenschaft.» Als Prêtre in die Schweiz zurückkommt, hat er so viel operiert wie kaum ein anderer Arzt in seinem Alter. Es ist der Beginn der Karriere, die am Kinderspital Zürich ihren vorläufigen Höhepunkt hat. Nach Stationen in Genf, London, Paris. Kliniken in England, Deutschland und Frankreich wollen ihn schon lange für sich verpflichten.
Sogar Prinzessin Caroline holt ihn einmal im Jahr nach Monaco, wo er ehrenamtlich bedürftige Kinder am Herz operiert. Über seine Stiftung Le petit cœur finanziert er humanitäre Arbeit in Mosambik. Einmal im Jahr fliegt er mit seinem Team zwei Wochen nach Maputo und heilt Kinder zwischen drei Monaten und 20 Jahren mit Herzproblemen.
In der Küche des Bauernhauses steht das Essen auf dem Tisch: Lammkeule mit grünen Bohnen, Kartoffeln. «Schneide du das Fleisch, oder kannst du das ohne deine Armada von Krankenschwestern nicht?», fragt der Vater. René lächelt, schleift das lange Messer. «Mein Vater traut mir immer noch nichts zu. Wenn ihm was wehtut, ruft er tatsächlich seinen Veterinär an!»
Mutter Bernadette schaut gütig über die Ränder ihrer Brille. «Ob ich stolz bin auf meinen Sohn? Ich bin zufrieden. Er hat immer viel gearbeitet.» Und wovon träumt René Prêtre? «Dass mich meine Patienten lange überleben.»