Mit der Hand streicht sich Corinne Parrat durch ihre langen, blonden Haare: «Frisieren!» Dann formt sie mit Mittel- und Zeigefinger der linken Hand ein verkehrtes V, die rechte hält sie wie eine Schale darunter: «Tanzen!»
Die 29-Jährige sitzt mit ihrer Schwester Fabienne, 31, auf dem Sofa. Sie erzählt, wie sie in Bern zur Miss Handicap gewählt wurde. Vom Schminken, Tanzen und wie schwierig es ihr gefallen war, die Balance auf den Stöckelschuhen zu halten. Corinnes Gleichgewichtsorgan funktioniert nicht. Davon haben die Zuschauer nichts mitbekommen. Genau darunter leidet die schöne Aargauerin – ihre Behinderung ist nicht offensichtlich. Sie ist gehörlos. Seit 27 Jahren lebt die frisch gekürte Miss in vollkommener Stille.
Im Alter von zwei Jahren erkrankt Corinne an einer Hirnhautentzündung und bekommt Antibiotika. «Ich spürte, dass meine Tochter danach anders war», erinnert sich Mami Erika, 56. «Irgendetwas stimmte nicht mehr.» Der Arzt versichert den Eltern aber immer wieder, alles sei in Ordnung, ihre kleine Tochter lerne einfach etwas langsamer. Eines Tages beobachtet die Mutter, wie Corinne zum Radio krabbelt, die Lautstärke maximal aufdreht und – keine Reaktion zeigt. Da wird Erika klar: Ihr Mädchen hört nicht mehr!
Nach dem ersten Schock kommt die Familie schnell mit der Situation zurecht. Ab jetzt schminkt sich die Mutter jeden Morgen den Mund rot, damit Corinne besser von den Lippen zu lesen lernt. Vater René, 60, hingegen trägt weiterhin seinen Bart und fördert damit ihre Beobachtungsgabe. Und Schwester Fabienne? Sie schleicht nachts ins Zimmer von Corinne – abwechslungsweise leuchten sich die Schwestern mit einer Taschenlampe an. So können sie stundenlang schwatzen, ohne dass die Eltern etwas mitbekommen.
Fabienne nimmt ihre kleine Schwester überallhin mit. «Manchmal kam Corinne frustriert nach Hause, weil sie die anderen Kindern nicht verstehen konnte», erzählt die Mutter. Deshalb lädt sie die «Gspänli» ein, setzt sie vor den Fernseher, schaltet den Ton aus und erklärt ihnen: «Genau so fühlt sich Corinne. Ihr müsst mit ihr langsam und deutlich Hochdeutsch sprechen.» Das funktioniert. Und bald verstehen die Kinder auch Corinnes Aussprache.
Andere Gehörlose lernt Corinne zum ersten Mal mit vier Jahren im Internat in Münchenbuchsee BE kennen. «Da waren alle auf der gleichen Wellenlänge», sagt Corinne. Es sei einfach lustiger, wenn Gehörlose einen Witz erzählen. «Bei uns spricht das ganze Gesicht mit. Die Hörenden haben immer den gleichen beschränkten Ausdruck.» Sie bildet mit beiden Händen ein Viereck vor ihrem Gesicht.
Zusammen mit ihren Freunden geht sie heute gerne in die Disco. «Hier spüre ich die Musik», sagt Corinne, während sie mit der Hand auf ihre Brust klopft. Am liebsten mag sie Pop und Soul, der Techno-Rhythmus sei ihr zu monoton. Klar, dass in der Disco nicht nur getanzt wird?… Die zierliche Corinne wird auch angesprochen. Einmal, als ein Mann mit ihr flirtet, versucht sie, ihm mitzuteilen, dass sie gehörlos sei und er sie beim Reden anschauen solle. Er versteht nicht, geht noch näher an ihr Ohr. Sie wiederum macht einen Schritt zurück, zeigt auf ihre Lippen. Er deutet ihr Zeichen falsch – und küsst sie! Darüber schmunzelt die Singlefrau noch heute.
Doch nicht alle Alltagssituationen bringen sie zum Lachen. Dass sie bei Durchsagen auf Bahnhöfen und in Zügen nichts mitbekommt, regt Corinne auf. Trotzdem entscheidet sie sich gegen ein Implantat, mit dem sie vielleicht hören könnte. «Ich bin sehr glücklich so, wie ich bin.» Falscher Stolz? Nein, Corinne hat sich bewusst gegen die aufwendige Operation entschieden. «Die Wahrscheinlichkeit wäre sehr gross, dass ich danach nur lautes Rauschen wahrnehmen könnte.» Gibt es irgendetwas, das sie unbedingt hören möchte? Ihre Hand macht kleine Wellenbewegungen: «Das Meer!»
Corinne ist neugierig. Mit 23 Jahren reist sie im Mietauto allein durch Amerika. «Ich kann mich in der englischen Lautsprache und der amerikanische Gebärdensprache verständigen. In den USA beherrschen sogar Polizisten die Gebärdensprache.»
Corinne kämpft für eine bessere Integration von Behinderten in der Schweiz. «Ich setze mich vor allem für mehr behindertengerechte Arbeitsplätze ein. Es ist zum Beispiel schon sehr schwierig, überhaupt zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden.» Bei der Bewerbung stellte Corinne sich die Frage: «Soll ich schreiben, dass ich gehörlos bin?» Sie entscheidet sich dafür – erhält Absage um Absage.
«Einmal wurde ich richtig wütend. Ich ging ohne Termin in die Firma und stellte den Chef zur Rede. Er war sprachlos», erzählt die Gehörlose. Nicht alle Arbeitgeber drehen ihr den Rücken zu. Seit einem Monat arbeitet die ausgebildete Mediendesignerin in einer Liegenschaftsverwaltung. «Die Kollegen haben mich sofort akzeptiert.»