«Draussen bist du der Chef, aber hier habe ich das Sagen!» Der 45-jährige Alain Berset steckt den Spruch seines bärtigen Gegenübers locker weg. In Fribourg kennt jeder «Piccolo», so der Spitzname des 70-jährigen Stadtoriginals. Piccolo redet «Bolze», ein fast verschwundenes deutsch-französisches Kauderwelsch, das die armen Leute in der Freiburger Unterstadt gesprochen haben.
Piccolo musste Zeit seines Lebens untendurch, er stammt aus einer Familie mit 14 Kindern. Hier in der Suppenküche ist Piccolo der Küchenchef und der Bundespräsident des Jahres 2018 sein Mitarbeiter. Hier in der Suppenküche fühlt sich Alain Berset, der Bundesrat aus dem idyllischen Freiburger Vorort Belfaux, völlig wohl. «Hier bin ich daheim, hier sind meine Wurzeln», sagt er, der als Student die Freiburger Unterstadt kannte wie seine Westentasche.
Alain Berset - ein Mensch wie jeder andere
Bereits zum elften Mal geht Berset in der Vorweihnachtszeit an die Gratissuppe für Obdachlose und Bedürftige der gemeinnützigen Organisation La Tuile. Über 5000 Menschen bekommen hier bis am 25. Dezember im mit Plastikplachen geschützten Musikpavillon auf dem Python-Platz in der schicken Oberstadt gratis eine Stärkung – Suppe oder Tee.
Mitten im Musikkiosk steht der kürzlich mit einem Glanzresultat gewählte Bundespräsident 2018 Alain Berset, die Ärmel seines Pullis nach hinten gekrempelt, vor einem dampfenden 120-Liter-Kessel und mixt Kartoffeln und Spinatblätter zu einer kräftigen Suppe. Hier ist Bundesbern weit weg. Und niemand redet ihn mit «Herr Bundesrat» oder «Monsieur le Conseiller fédéral» an. «Das geniesse ich. Ich kenne hier alle. Für die Leute hier bin ich einfach der Alain.»
Und Eric Mullener, der Direktor der Organisation La Tuile, ist des Lobes voll. «Das ist keine Show. Seit elf Jahren ist Alain bei der Suppenküche dabei. Nur zweimal musste er passen.» Alain Berset und Eric Mullener kennen sich schon lange. Über ein Dutzend Jahre leiteten die beiden Musiker – Berset spielt Piano – in der Unterstadt den Jazzclub «La Spirale».
Vom Obdachlosen zum Bundespräsidenten sind alle da
An diesem Samstag ist die ganze Familie Berset da. Alain Bersets Frau Muriel Zeender Berset, 44, sitzt mit Piccolo und Alain am Holztisch und löffelt Frischkäse in die Spinatcremesuppe. Nicht weit von hier, im Musée du Papier peint in Mézières FR stellt die Künstlerin derzeit Bilder ihrer Serie «Land of plenty» aus.
Die Stimmung ist locker. Die kleine Apolline, 10, klettert auf Alains Schultern. Antoine, 14, und Achille, 12, helfen ihrem Vater, beim Suppenschöpfen. Das Publikum ist bunt gemischt. «Vom Obdachlosen bis zum Bundespräsidenten haben wir alle hier», frohlockt Eric Mullener. Viele merken allerdings nicht, dass ein Bundesrat im Zelt arbeitet. Alain Berset wollte auch nicht, dass sein Einsatz vorgängig bekannt gemacht wird.
«Ich habe Alain schon als Knirps gekannt»
Zur Suppe spielen Musiker kubanische Lieder. Für viele an den Tischen ist es die einzige Mahlzeit heute. Auch für Piccolo. Er kümmert sich gerade darum, dass es wieder genug geschnittenes Brot hat. Und schickt Alain, der ein bisschen mit den Leuten plaudert, wieder zurück an den Herd. Der Bundesrat gehorcht ihm amüsiert aufs Wort.
Piccolo freuts: «Ich habe Alain schon als Knirps gekannt. Er ist der Sohn von Solange.» Und Piccolo erzählt stolz, dass er selber in seinen vielen Leben auch schon einmal Koch gewesen war. Für ihn aber bleibt Alain der Bub von Belfaux. Ein Kumpel wie ich und du.