Eine leichte Brise weht durch das Schilf. Hier am Fusse des Juras fühlt sich Didier Burkhalter, 58, wohl. Hier ist er verwurzelt. Der ehemalige Aussenminister lächelt, er freut sich auf den Spaziergang. Die Gegend am Neuenburgersee hat ihn zu seinem zweiten Roman inspiriert. Diplomat Burkhalter ist Schriftsteller geworden, mit sicherer und schöner Feder.
Monsieur Burkhalter, was machen Sie seit Ihrem Rücktritt?
Meine Politkarriere ist beendet, nach 32 Jahren Leidenschaft. Nun öffne ich eine neue Seite meines Lebens. Ich lebe die Werte, die mein Leben schon immer bestimmt hatten. Nun drücke ich sie in Geschichten aus. Ich bin glücklich, die Kraft gehabt zu haben, mich auf eine neue Etappe zu begeben.
Wo fanden Sie die Energie für diesen grossen Sprung?
In meinen Büchern rufe ich eine Stimme wach, die in uns spricht, die uns führt. Sie hatte mir gesagt, dass die Zeit gekommen ist, mich von der Regierungszeit zu verabschieden und die Freiheit zu ergreifen, mich auf meine Art auszudrücken.
Wie verbrachten Sie die Tage nach Ihrem Rücktritt?
Mit meiner Gattin Friedrun Sabine habe ich Bern am Abend des 31. Oktober 2017 verlassen. Wir sind vom Bundeshaus West direkt nach Neuenburg zurückgekehrt. Zuvor hatten wir allen, die gekommen waren, um uns «au revoir» zu sagen, alles Gute gewünscht. Am folgenden Morgen setzte ich mich ans Pult und begann, «Kinder der Erde» zu schreiben, eine Erzählung. In zehn Tagen und Nächten, aus vollem Herzen. Danach hätte ich mich eigentlich ausruhen sollen. Doch ich hatte schon mein zweites Buch im Kopf, es trägt den Titel «Da, wo Berg und See miteinander reden». Ich schrieb es über Weihnachten und Neujahr.
Wovon handelt das zweite Buch?
Von meiner Region hier, meinem Leben, meinen Ursprüngen – alles war da, floss wie ein Bach. Eine weitere Motivation: Meine Frau malte das Titelbild.
Was hat Sie zum Schreiben bewogen?
Ich habe schon immer gern geschrieben. Das Schreiben beinhaltet absolute Stille. Es gibt einem die Kraft, sich selber auszudrücken, die Leidenschaft des Lebens, die Freiheit der Gedanken. In meinem Leben als Politiker hatte ich diese Möglichkeit nicht. Ich habe ein starkes Interesse für die Romanform: Zurzeit arbeite ich an einem neuen Roman, er wird diesen Sommer erscheinen. Er zeichnet die Geschichten von Menschen nach, die auf der Suche waren nach ihren Ursprüngen.
Ist Schreiben für Sie eine Tätigkeit, um nicht in Vergessenheit zu geraten?
Im Gegenteil. Ich möchte nicht mehr so öffentlich in Erscheinung treten.
Ihr erstes Buch widmen Sie den Kindern. Aus welchem Grund?
Weil ich Kinder gern habe. Das erste Buch war in meinem Herzen geschrieben. Es handelt von Begegnungen mit Jugendlichen, die mich tief berührten. Es waren keine offiziellen Begebenheiten. Es sind kleine Perlen aus dem Leben, gepflückt aus dem strengen Programm als Aussenminister. Von Momenten, in denen ich das Gefühl hatte, das Wichtige zu ertasten in unserer unruhigen Welt. Jeder Begegnung widme ich dieselbe Aufmerksamkeit, sei es mit einem grossen Präsidenten, sei es bei einem Kind.
Welche Menschen berührten Sie besonders?
Ich sprach mit mutigen Jugendlichen und Frauen, die für ihre Rechte und ihre Zukunft kämpfen.
Der Blick auf die Verwundbarsten: Ist dies das Erbe Ihrer acht Jahre als Bundesrat?
Es ist ein Erbe des Herzens. Das Leben eines Bundesrats ist äusserst dicht gedrängt. Und die prägenden Ereignisse sind zum Teil nicht miteinander vergleichbar. Ich habe vieles geschätzt. Zum Beispiel 2014 an der Spitze der OSZE zu stehen, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Am Schluss dieses Jahres war ich erschöpft, aber dankbar. Es ist wichtig, dass wir vom Mut der vielen anonymen Menschen in unserem Land und der Welt sprechen, von denjenigen mit den grossen kleinen Herzen. Von der Notwendigkeit, etwas anzupacken – um Zukunftsperspektiven zu schaffen für die Jugend.
Haben Sie Kontakt behalten mit diesen Kindern?
Momentan habe ich keinen Kontakt. Doch ich versuche, auf dem Laufenden zu bleiben, was ihre Zukunft betrifft. Die Entscheidung, die Regierung zu verlassen, hat mit zwei Reisen im Frühling 2017 zu reifen begonnen – ich erzähle davon in «Kinder der Erde».
Von welchen Reisen sprechen Sie?
Die eine war der Besuch des Flüchtlingslagers von Azraq in Jordanien. Dort legten wir Wasserleitungen für Zehntausende Flüchtlinge. Dort traf ich den kleinen, lebensdurstigen Ahmed. Und dann war es die Reise nach Mariupol in der Ukraine, dorthin hatten wir grosse Hilfstransporte organisiert. Im Kinderspital gab mir eine Krankenschwester ein Bébé in die Arme, ein Waisenkind. Seinen bestimmten Blick werde ich nie vergessen.
Bei Ihrem Abschied aus dem Bundesrat sagten Sie, zu Ihrer Familie zurückkehren zu wollen. Wie war dieser Weg?
Ich habe lang versucht, daheim möglichst präsent zu sein. Als Friedrun Sabine und ich heirateten, war sie 19 Jahre alt, die drei Söhne kamen schnell. Früh habe ich mit der Politik angefangen. Wir beschlossen, dass das politische Leben uns nicht davon abhalten sollte, unser Familienideal zu bewahren. Doch der öffentliche Druck und die Tendenz zur Personalisierung machten das etwas komplizierter. Meine Frau und ich haben alles geteilt in unserem Leben. Friedrun Sabine war während meiner Regierungsjahre enorm präsent, sie hat die Rolle des Ehepartners eines Bundesrats instinktiv verstanden. Ich bin ihr sehr dankbar. Nun gehe ich mit ihr einen neuen Weg.
Die Familie ist Ihnen sehr wichtig.
Wir sind nichts ohne unsere Herkunft, ohne die Generationen, die den Boden vorbereitet haben, der eines Tages der unserige wird. Wir sind nicht viel ohne die Dinge, die wir für diejenigen tun, die unseren Lebensweg teilen. Und wir sind nur dann wirklich stark, wenn wir uns der Generationen bewusst sind, die nach uns kommen. Für mich hat die Familie die Bedeutung der Natur. Sie macht unser Leben länger, grösser, schöner.
Auf der Buchrückseite steht, dass Ihre Frau «Ihr ganzes Leben» ist.
Das ist einfach die Wahrheit.
Galerie: Friedrun Sabine Burkhalter
Worin sehen Sie Ihre jetzige Aufgabe?
Ich hoffe, dass ich ein Mann war und immer noch bin, der hilft, dem Frieden eine Chance zu geben. Es muss alles getan werden, um die Unterschiede auf dieser Welt zu überbrücken, Krieg zu vermeiden.
Bei der Lektüre Ihres Buches erlebt man Sie als sensiblen Mann. Haben Sie als Bundesrat gelitten?
Das Leben eines jeden Menschen ist oft ein Leiden, meines ist da keine Ausnahme. Die Schlüsselfrage lautet, wie man es zähmt und daraus Stärke gewinnt.
Haben Sie dies erreicht?
Ich behaupte nicht, immer erfolgreich gewesen zu sein. Was mir geholfen hat, ist die tiefe Ruhe und auch die Überzeugung, dass die Prüfungen des Lebens auch deshalb auf unseren Weg gelegt werden, um uns reifen zu lassen. Um unsere Augen und unser Herz grösser werden zu lassen – mit Blick auf die Welt und uns selbst.
Der Schluss Ihres Buches klingt dunkel.
Wenn wir der Zukunft, also dem Leben vieler Generationen, eine Chance geben wollen, müssen wir mit unserem Planeten und seiner Natur respektvoll umgehen. Wir müssen Technologien auch in den Dienst der menschlichen Werte stellen und sie nicht unser Leben und unsere Gedanken kontrollieren lassen. Wenn wir Millionen von Menschen leiden lassen und ihnen nicht helfen, wenn Krieg, Korruption und fehlende Rechte das Leben auf der Welt ruinieren, wird unsere Zukunft düster sein. Politik ermöglicht es, Entscheidungen so zu beeinflussen, dass sie sich in eine bessere Richtung bewegen. Ein Schriftsteller kann auf diesem Weg Lichter anzünden.
Glauben Sie, dass der Mechanismus, auf dem unser System basiert, zum Scheitern verurteilt ist?
Nein. Denn wir alle haben die Energie, den nächsten Generationen Wege zu einem guten Leben aufzuzeigen.
War der Bundesrat ein guter Ort, unsere Welt zu überdenken?
Der beste Platz ist im Herzen eines jeden Menschen. Auch der Bundesrat ist ein solcher Ort – allerdings mit der Realität der Macht und der Kollegialität. Diese ist eine institutionelle Kraft und eine persönliche Zwangsjacke zugleich.
Was gibt es in der Schweiz zu tun?
Der Respekt muss gefördert werden, insbesondere Minderheiten gegenüber. Und es braucht Solidarität, besonders im Kampf gegen die Armut.
Vertrauen Sie der Zukunft?
Ich glaube an humanistische Werte. An die Antwort des Menschen als Individuum, das ein Ideal vor Augen hat.
Sind Sie gläubig?
Ja. Ich bete oft. Dank dem, was ich in den vergangenen Jahren sah und erlebte, schärfte sich mein Bewusstsein für den Zustand der Menschheit. Das lässt mich von der persönlichen Beziehung zu Gott noch mehr erwarten.
Didier Burkhalter ist unterwegs für Signierstunden: 2. Mai, 16.30 Uhr, Buchhandlung adhoc, Wil SG; 2. Mai, 18.30 Uhr, Buchsalon Kosmos, Zürich; 5. Mai, 11.15 Uhr, Bücherperron, Spiez BE; 5. Mai, 14 Uhr, Buchhandlung Stauffacher, Bern.
Übersetzung/Bearbeitung Thomas Kutschera