Freitag, 2. November 2018. 12.50 Uhr. Bundesplatz Bern. Frau Humbel verlässt das Bundeshaus, roter Mantel, in der linken Hand einen Rollkoffer. Sie geht in der Schauplatzgasse 16 ins Restaurant Della Casa. Sie setzt sich zu einem Mann und einer Frau an den Tisch. Sie essen zusammen. Frau Humbel trinkt ein Glas Rotwein. (Gemäss Protokoll von Privatdetektiv Marco Specker.)
«Ich habe überhaupt nicht gemerkt, dass ich beobachtet werde», sagt Ruth Humbel knapp zwei Wochen später in ihrem Wohnzimmer in Birmenstorf AG. Sie schaut sich Fotos an, die ein Privatdetektiv von ihr geschossen hat. Ob sie beim Mittagessen öfter ein Glas Rotwein trinke? «Es war eine strenge Woche», sagt Humbel und lacht verlegen. «Ich hatte später keine Termine mehr. Wenn es am Nachmittag ernst weitergeht, trinke ich keinen Wein.»
IV und Suva setzten schon früher Detektive ein
Am 25. November stimmen wir über ein neues Sozialversicherungsgesetz ab, das klären soll, wie weit Detektive in die Privatsphäre eindringen dürfen. IV und Suva setzten schon früher Detektive ein, um Betrugsfälle aufzudecken. Doch 2016 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass die gesetzliche Grundlage nicht genüge. Die Observationen wurden eingestellt.
Nun soll sich das wieder ändern. CVP-Politikerin Ruth Humbel kämpft dafür. «Detektive kommen nur als letzte Massnahme zum Einsatz», sagt sie. Wie es sich anfühlt, beobachtet zu werden, hat sie nun selbst erlebt. Die Schweizer Illustrierte liess sie während zwei Wochen observieren. Mit ihrer vorherigen Zustimmung – wann und wo sie beobachtet wird, wusste sie nicht.
Die Eingangstür ihrer Zweitwohnung ist nicht angeschrieben
Freitag, 2. November 2018. 15.10 Uhr. Altstadt Bern. Frau Humbel und ihre Bekannten verlassen das Restaurant Della Casa. Frau Humbel betritt ein Haus in der Nähe des Zytglogge. «Ich habe dort eine kleine Wohnung, die ich vor allem während der Session benütze», sagt sie, während sie die Fotos betrachtet. Ihr Name steht nicht an der Eingangstür. «Ich fand das unnötig. Da ich nicht oft da bin, bekomme ich an dieser Adresse keine Post.»
Der Mann, der die Nationalrätin ausspionierte, heisst Marco Specker, 42. «Frau Humbel ist flutschiger als ein Fisch», sagt er. Da sie keine regelmässigen Arbeitszeiten und keinen fixen Arbeitsplatz habe, sei es nicht einfach gewesen, ihr auf die Schliche zu kommen. Wie fühlt es sich an, jemanden zu observieren? «Ich hatte schon Mitleid mit Leuten, die Geldprobleme haben und bei denen ich auch noch rumschnüffle.» Das Gegenteil komme aber öfter vor. «Ein Coiffeur war mal besonders skrupellos. Er war krankgeschrieben und arbeitete 100 Prozent bei der Konkurrenz.» Specker ist seit 20 Jahren Detektiv.
Jeder kann sich Detektiv nennen
Laut dem neuen Gesetz dürfen alle Personen, die eine Detektiv- oder Polizeischule besuchten, über zwei Jahre Berufserfahrung verfügen und vom Bundesamt für Sozialversicherungen bewilligt wurden, spionieren. Die Berufsbezeichnung ist nicht geschützt – jeder kann sich Privatdetektiv nennen. «Die Versicherungen unterstehen der Kontrolle des zuständigen Bundesamts. Darum könnten sie es sich nicht leisten, jemanden einzustellen, der unseriös ist», sagt Humbel.
Freitag, 2. November. 15.23 Uhr. Altstadt Bern. Frau Humbel steigt ins Tram Nummer 9 und fährt zum Bahnhof Bern. Dort nimmt sie den Interregio 2179 Richtung Zürich HB. Beim Bahnhof Brugg steigt sie aus und fährt mit dem Bus 362 bis Birmenstorf. Sie unterhält sich mit einem Mann. Um 17.00 Uhr trifft sie zu Hause ein.
«Das ist ja gut dokumentiert», sagt Humbel. Detektiv Specker darf – laut dem neuen Gesetz – das Haus von Ruth Humbel von der Strasse aus fotografieren. Nicht aber das Privatgrundstück betreten. Er dürfte sie in Zukunft sogar auf dem Balkon oder im Garten fotografieren, wenn sie von der Strasse aus sichtbar ist. Genau das ist heiss umstritten. «Wir haben in der Kommission Beispiele gesehen, bei denen ein Mann sich nur mit Rollstuhl fortbewegen konnte, aber im Garten auf die Leiter stieg und Bäume schnitt. So etwas darf doch nicht sein», findet Humbel.
«Es geht nur um die, die lügen und betrügen»
«Ein schwerwiegender Eingriff in die Privatsphäre», sagt Nationalrat Balthasar Glättli, 46. «Egal, ob schuldig oder nicht – es geht nicht, dass die Versicherungen selber entscheiden können, ob eine Observation möglich ist. Das muss ein unabhängiger Richter machen.» Für Menschen, die zu Unrecht ausspioniert werden, zeigt Ruth Humbel Verständnis. «Mich würde das auch verletzen. Auf der anderen Seite muss man nichts befürchten, wenn man ehrlich ist. Es geht nur um die, die lügen und betrügen.» Dank Observationen sparten die IV-Stellen in den Jahren 2010 bis 2016 insgesamt 170 Millionen Franken. In diesem Zeitraum wurden 1050 IV-Bezüger observiert, in 500 Fällen bestätigte sich der Verdacht. Eine Überwachung kostet im Schnitt 10 000 bis 20 000 Franken.
Sonntag, 4. November 2018. 18.19 Uhr. Birmenstorf AG. Der silberne Passat von Frau Humbel bewegt sich Richtung Windisch AG. Das Auto fährt zum Bahnhof Brugg und wieder zurück. Gefahrene Distanz (laut Trackingprotokoll): 9 Kilometer. Dauer: 29 Minuten.
«Wahrscheinlich haben mein Mann oder ich unsere Tochter zum Bahnhof gefahren.» Der Privatdetektiv Specker hat einen GPS-Sender an das Auto von Ruth Humbel angebracht. Mit einer richterlichen Genehmigung wäre das in Zukunft möglich.
Humbel unternimmt häufig Fahrten nach Zürich
Auffällig ist, dass Humbels Auto während der Observation oft nach Zürich fährt – zum Arbeitsplatz ihres Mannes. Wird das Auto nur von ihm benützt? «Ich habe auch noch ein Auto. Das steht in der Garage, ich bin meistens mit den ÖV unterwegs.» Warum läuft die Versicherung des Autos dann über ihren Namen? «Wir hatten zuerst beide ein Auto. Dann haben wir eines verkauft.» Später hätten sie gemerkt, dass sie doch zwei Fahrzeuge brauchen. «Wir haben dann ein neues Auto gekauft. Beide sind jetzt auf meinen Namen eingetragen. Es wäre schon besser, wenn ich eines auf meinen Mann umändern würde.»
Nachdem Ruth Humbel die Resultate der Observation gesehen hat, bleibt bei ihr kein ungutes Gefühl zurück. «Diese Bilder hätte ja jeder von mir in der Öffentlichkeit machen können. Für mich ist das kein Problem.»