Das erste Mal besucht Henry Leutwyler New York mit seinem Vater in den 70er-Jahren. Der Junge fragte nach der Bedeutung des allgegenwärtigen Apfel-Logos. «Wenn du diesen Apfel wirklich willst, musst du dich auf die Zehenspitzen stellen, um ihn zu erreichen», erklärte ihm sein Dad. «Und wenn du dich anstrengst, wirst du ihn irgendwann einmal zu fassen kriegen.»
Henry, 53, hats geschafft. Seit 20 Jahren lebt der Starfotograf, der selber Stars wie Julia Roberts oder Beyoncé porträtiert, in New York. Die Architektur und die Geschichte der Stadt haben es ihm angetan. Steht er nicht gerade hinter der Kamera, streift er durch den Big Apple und schaut sich gründlich um. Gründlich, ein Wort, das bei ihm sehr oft fällt. Das Studio im 20. Stockwerk im New Yorker Stadtteil TriBeCa (Trinagle Below Canal Street) am Broadway zeigt sich in einer Mischung aus schweizerischer Funktionalität und japanischem Zen. Eine Oase in der hektischen Stadt, deren pulsierende Geräusche von weit her durch das offene Fenster dringen.
Henry Leutwylers Geschichte als Fotokünstler beginnt in Lenzburg im Kanton Aargau. Er ist ein aufgewecktes Einzelkind. Vom Vater (seine Mama ist Italienerin) bekommt er als Sechsjähriger eine Fotokamera geschenkt. Damit er sich mit etwas Sinnvollem beschäftigt, sagen die Eltern. Nach einer zweimaligen Absage an der Fotoschule in Vevey eröffnet er in Lausanne trotzig sein erstes Fotostudio. Der Erfolg bleibt aus. Erst in Paris, wo er seine Frau Ruba Abu-Nimah kennenlernt, fasst er Fuss in der Branche. Das Paar bricht die Zelte in Europa ab und wandert nach Manhattan aus. Henry hat den Entscheid nie bereut: «Mehr kann man diese Stadt nicht lieben!», sagt er in der aktuellen Ausgabe der «Schweizer Illustrierten».
Leutwylers Arbeit ist vielseitig. Neben Porträts fotografiert er auch Modestrecken, Food, macht Anzeigenkampagnen und Sachaufnahmen. Sich nur auf etwas zu konzentrieren, würde ihn nicht befriedigen. So «switcht» er zwischen den Welten des Scheins und des Seins, immer auf der Suche nach der einzigartigen Schönheit des Moments. Seine Covers für das «New York Times»-Magazin, «Esquire», «Time», «Stern» oder «Annabelle» sind weltbekannt. Die zahlreichen goldenen Auszeichnungen dafür versorgt er bescheiden im Schrank und zeigt sie erst, nachdem man ihn darum gebeten hat. Sich auf den Lorbeeren ausruhen mag er nicht. Denn die Welt dreht sich weiter - und er dreht sich mit ihr.
Vieles entsteht in der Zusammenarbeit mit seiner Frau Ruba. Sie hat erfolgreich als Creative Director für Bobbi Brown Cosmetics gearbeitet. Sitzen die beiden zusammen, wird schnell klar: Ruba ist «tough», Henry ist «nice». Klar, dass dieses Paar wunderbar zusammen funktioniert!
«Hinter jedem erfolgreichen Mann, steht eine kluge Frau», weiss Leutwyler. So auch im Buch «Ballet» über das New York City Ballet (NYCB). Henry lieferte die Bilder, Ruba die Artwork. Das Resultat: ein tiefgründiger Blick hinter die Kulissen des weltberühmten Tanztheaters. Henry wurde als erster Fotograf überhaupt auf die Backstage zugelassen. Peter Martins, Leiter des NYCB: «Seine pure Begeisterung für das New York City Ballet ist mehr als ansteckend, und seine Freude ist auf alle übergesprungen, denen er hier im Theater begegnete.»
Das Werk wurde vom exzentrischen Verleger Gerhard Steidl veröffentlicht und war schon nach kurzer Zeit vergriffen. Der Preis schnellte in die Höhe. Sammler waren auf Ebay bereit, über 5000 Dollar hinzublättern. In diesem Projekt steckt viel Herzblut. «Ballett ist mehr als Tanz. Es ist Ausdruck menschlicher Gefühle in all ihren Formen: Liebe, Lust, Verzweiflung, Leidenschaft, Hoffnung.»
Im Gegensatz zu diesem Werk bleiben ihm oft nur 15 Minuten, um einen Star abzulichten. Wie schafft er das? Den Trick hat er von Helmut Newton übernommen. «In den ersten acht Minuten sollte man das Bild hinkriegen. Wenn das Gegenüber noch denkt, du wärmst dich auf, hast du den Shot bereits gemacht. Ich bin immer freundlich, aber ich weiss genau, was ich will. Und das bekomme ich auch.»
Leutwyler, der vielen Stars die Hand geschüttelt hat, hält sich privat selber eher bedeckt. Seine Familie sei ein «schrecklicher Haufen», verrät Henry verschmitzt. Stolz präsentiert er seine riesige Büchersammlung. Unter dem Arm: das Ballettbuch, das bald neu aufgelegt wird. Für das Familienporträt gelingt es ihm tatsächlich, seine Liebsten zu vereinen.
Ruba arbeitet in der Endphase eines Online-Projektes für Yahoo, Henry jun., 12, ist zum Skaten unterwegs, Yasmin, 18, hat sich verabredet, und Hund Sid, 3, flitzt aufgeregt hin und her. Mittendrin, wie ein Fels in der Brandung: Henry. Mit dem neuesten Projekt «Document» beendet er eine zehnjährige Arbeit. Im Buch zu sehen: der Revolver, der John Lennon tötete. Mahatma Gandhis Brille. John Waynes Gewehr. Bob Marleys verbrannte Gitarre. Chaplins berühmtes Stöckchen. Das Buch erscheint nächstes Jahr. In Paris in der Galerie Colette stellt er jetzt seine Bildserie über Michael Jackson aus («Neverland Lost», bis 4. Oktober). Danach warten Projekte in Deutschland, Schweden und der Schweiz. So geht seine Reise zwischen den Welten immer weiter.