Ein Lied, wie für Ignazio Cassis geschrieben: «Che sarà, che sarà della mia vita chi lo sa?» – Was wird sein, was wird geschehen in meinem Leben, singt der Tessiner FDP-Nationalrat, 56, mit tiefer Stimme und voller Inbrunst in seiner Bibliothek. Er begleitet sich selbst auf der Gitarre. Und das mit nur neun Fingern! Als Zwölfjähriger springt er über einen Zaun mit eisernen Zacken – und bleibt mit dem kleinen Finger der rechten Hand hängen. «Ich war ein Lausbub, konnte nie still sitzen. Heute würde man mir Ritalin geben!»
Umtriebig ist Cassis auch heute. Seit 2015 ist er Chef der FDP-Fraktion im Bundeshaus. Er präsidiert die wichtige Gesundheitskommission, den Krankenkassenverband Curafutura und den Heimverband Curaviva. 70- bis 80-Stunden-Wochen sind für den ehemaligen Tessiner Kantonsarzt keine Ausnahme. «Ich mache es ja gern. Die fünf Zigaretten pro Tag sind gesundheitlich wohl ein grösseres Laster!», sagt er und singt weiter.
«Ich fände den Job spannend»
«Paese mio che stai sulla collina» – Mein Dorf da oben auf dem Hügel. Cassis lebt zusammen mit seiner Frau Paola, 54, in einem Haus in den Hügeln von Montagnola bei Lugano. Unter der Woche wohnt er in einer Wohnung in Bern. «Die Tessiner beklagen sich bei mir: ‹Ignazio, man sieht dich hier nicht mehr am Stammtisch!› Und ich entgegne: ‹Ihr habt mich doch nach Bern geschickt!›»Dabei sollten die Tessiner froh sein, dass Cassis so viel Zeit in der Bundesstadt verbringt. Denn der knapp 1,70 Meter kleine Politiker hat grosse Chancen, den Südkanton künftig im Bundesrat zu vertreten – wenn FDP-Bundesrat Didier Burkhalter dereinst zurücktritt. Cassis gibt zu, dass ihn dieses Amt interessiert. «Ich bin ein neugieriger Mensch. Ich fände den Job spannend.» Aber diese Frage stelle sich zurzeit nicht. «Die FDP hat hervorragende Bundesräte.»
Mit Badezimmer-Verhandlungstechnik spät in die Politik eingestiegen
«Amore mio, ti bacio sulla bocca» – Meine Liebste, ich küsse dich auf den Mund. Mit Röntgenärztin Paola ist Cassis seit 25 Jahren verheiratet. «Eine Nordtessinerin und ein Südtessiner, das ist fast so schwierig wie bei Romeo und Julia», sagt er und zwinkert ihr zu. «Ja, wir Bergler sind etwas distanzierter. Du hast mich aber mit deiner fröhlichen Art erobert», sagt sie. Über Politik sprechen die beiden gern – meist wenn sie abends gemeinsam auf der Cheminéebank sitzen. «Wir sind uns aber nicht immer einig.» Etwa bei der Energiestrategie 2050, bei der auch seine eigene Partei unentschlossen ist, müsse er sie noch überzeugen. «Dabei fährt sie unseren Elektro-Smart noch öfter als ich!»
Cassis kommt als Quereinsteiger erst mit 46 in die nationale Politik. Die FDP Tessin brauchte einen Arzt auf ihrer Nationalratsliste. Cassis sagte zu – und rückte 2007 in die grosse Kammer nach. «Das war schon eine neue Welt für mich.» Doch er habe in den diversen Ärztegremien wie etwa der eidgenössischen Aids- und Drogenkommission gelernt, Kompromisse zu finden. Zudem sei sein Elternhaus eine gute Schule gewesen: «Wenn man mit drei Schwestern und nur einem Badezimmer aufwächst, lernt man sehr viel über geschickte Verhandlungstechnik!»
Politiker von links bis rechts loben Cassis’ herzliche Art und sein Engagement. Seinen Führungsstil beschreibt Parteikollegin Karin Keller-Sutter als integrierend: «Er ist nicht der Typ, der alles selber machen will. Er bezieht uns stark in seine Strategien mit ein.» Trotzdem poche er bei wichtigen Entscheiden wie bei der Rentenreform darauf, dass die Partei geschlossen stimmt. SP-Präsident Christian Levrat moniert, dass Cassiszu viele Ämter innehat – und drohte ihm bei der Rentendebatte gar mit personellen Konsequenzen im Hinblick auf eine Bundesratswahl. «Das hat mich verletzt. Aber ich bin nicht nachtragend.»
Mit der Gitarre in den Bundesrat?
Kinder haben die Cassis keine. «Wir hätten gerne welche gehabt. Aber wir gehören zu jenen Paaren, bei denen medizinisch alles in Ordnung ist, aber es trotzdem nicht klappt.» Wenn die beiden nicht arbeiten, pflegen sie ihren Garten oder gehen auf Reisen, etwa nach Bangladesch. «Nur am Strand herumliegen ist nichts für uns.»
Inspiration für die Politik findet Cassis beim Gitarrespielen. Meist am Sonntagmorgen. «Aber nicht zu früh! Mein Vater ist als Bauer um vier Uhr aufgestanden. Ich habe mich wohl extra umgekehrt entwickelt.» Sein Vater habe auch nicht verstanden, warum er jeden Franken in Schallplatten – vor allem Jazz aus den 40er- und 50er-Jahren – investiert habe. «Ich bin ein Nostalgiker, verbinde viele Erinnerungen mit Musik.» Und welches Lied würde zu einem Bundesrat passen? Cassis greift zur Gitarre: «The answer is blowing in the wind» – Die Antwort verweht im Wind.