Jacky» heisst sie, die seit je als Einzige bei Gotthard freien Backstage-Zutritt hat. «Das Rockerleben hat eben Vorteile», erklärt Schlagzeuger Hena Habegger, 50. «Nämlich sieben: Jack Daniel’s Old Number 7.» Im Kühlschrank des Tour-Busses steht noch die Flasche von vergangener Nacht. Nach der ersten Show haben einige bis um vier Uhr gefeiert. 21 Jahre sind vergangen, seit die erfolgreichste Schweizer Band mit der «D-Frosted»-Tour ihren grossen Durchbruch schaffte. Nun sind sie wieder unplugged unterwegs, «D-Frosted Part II».
Whisky, Bier und Alka-Seltzer
Bassist Marc Lynn, 53, sitzt beim Bus-Eingang und genehmigt sich mit der Rest-Morgenwärme im Körper als Erstes einen Kaffee und eine Zigarette. «So beginne ich den Tag bereits mit etwas Bösem.» Neben Whisky sind Kaffee und Zigaretten wichtig – «auch Bier und Alka-Seltzer. So kannst du wählen, was du gerade brauchst», sagt Gitarrist Leo Leoni, 51. Er ist jeweils als Letzter wach, auch wenn er nicht als Letzter aufsteht. «Ich brauche morgens Ruhe. Und Marc ist einfach alt geworden, weisch.» – «Die Jahreszeit ist auch mühsam, da erkältet man sich zu schnell», erwidert der. «Exzessive Partys vertragen wir nicht mehr.» Gegen 11 Uhr sind alle auf den Beinen.
Die Rocker parken im Industriequartier von Memmingen (D). Wie toll es bei wärmeren Temperaturen sein könnte, lässt das leere Wasserbecken erahnen. Gitarrist Freddy Scherer, 51, kehrt vom Frühsport zurück. Es ist 13 Uhr. Vor zehn Jahren hat er aufgehört zu rauchen, dafür mit Schwimmen begonnen. Einen Kilometer, 22 Minuten, davon 70 Prozent Crawl, Rest Brust. Die nasse Badehose hängt er ans Treppengeländer, das hinauf zu den Kajüten führt. Es fehlt an Platz. 18 Personen fahren im Nightflighter mit. «Im Tour-Bus ists wie im Viehtransporter», so Marc Lynn. «Jedes Säuli hat sein Chischtli.»
On Tour ist alles organisiert. Keiner muss fahren oder kochen – nur pünktlich auf der Bühne stehen. Auch die Schlafplätze haben Ordnung: Schnarchler nach hinten, Nichtschnarchler nach vorne. Alle Bandmitglieder schlafen vorn. «Aber wir haben grosse Talente, die nach hinten gehören», so Freddy. Hena macht es sich grad in seinem Chischtli zum Lesen bequem. Jede Nacht liege er oberhalb von Barbara, scherzt der einzige Familienvater der Band. Italienerin Barbara, 36, und Tunesierin Maram, 23, sind die beiden Background-Sängerinnen. Gerade feiern die Ladys die Grösse der Dusche vor Ort – so ausgiebig, dass Leo Leoni über eine Stunde in der Warteschlange der «Vor dem Konzert»-Duscher steht.
Dank Facetime Kontakt mit der Tochter
Hena Habegger hat in der Zwischenzeit ein «schärferes Show-Intro» auf seinem iPod gefunden und lobt generell den Fortschritt der Technik. «Dank Facetime kann ich auf Tour meine einjährige Tochter Melodie sehen», sagt er. «Vor 20 Jahren mussten wir in jedem Land noch mühsam das richtige Münz zusammenkratzen und danach eine Telefonkabine suchen.»
Anno 1997 – die Plattenfirma fordert ein weiteres Album von Gotthard. Die Band hat aber keine neuen Songs. Leo Leoni schlägt vor, ein paar Unplugged-Konzerte zu geben und diese aufzunehmen. Aus zwei Monaten werden zwei Jahre auf Achse. «Leo hat in dieser Zeit ohne seine Marshall-Verstärker sehr gelitten», erinnert sich Manager Tomas Fisera. «Hani musikalisch Heimweh gha, then my heart belongs to Rock ’n’ Roll», gesteht der Gitarrist aus dem Tessin. In der Garderobe wechselt er die Saiten seiner Gibson J200, die schon damals mit dabei war. «Gitarren sind wie Freundinnen, du musst sie pflegen.»
«Wir haben so viele Geschichten gehört, dass wir das Gefühl haben, dabei gewesen zu sein»
Die Idee, erneut auf Unplugged-Tour zu gehen, ist vor Jahren entstanden, «noch bevor Steve in seine ewigen Ferien reiste», so Leoni. Der Gotthard-Frontsänger kommt am 5. Oktober 2010 bei einem Verkehrsunfall auf einer Motorradtour in den USA ums Leben. Es ist der grösste Schicksalsschlag in der fast 30-jährigen Bandgeschichte. Was für Kämpfe, Leiden und Erfolge die Musiker aushalten mussten, veranschaulicht auch die Dokumentation «Gotthard – One Life, One Soul» zurzeit in den Kinos. «Mein halbes Leben ist weg», sagt Leoni im Film. Beim Thema Steve widerspiegelt sich der Verlust bis heute in seinen Augen. Leoni schweigt, klopft auf sein Herz.
«Comment ça va?», begrüsst Freddy Scherrer Nic Maeder, 46. Pünktlich zum Soundcheck erscheint der Gotthard-Sänger in seiner Skijacke in der Garderobe. Maeder hat nicht bei seinen Kumpels geschlafen, sondern im Hotel. Mit den Füssen in Fahrtrichtung kommt er nicht zur Ruhe. «Meine Stimme ist mein Instrument. Ich muss strikt zu mir sein, damit ich nicht krank werde.» Für ihn, der seit sieben Jahren bei Gotthard dabei ist, und für Freddy (14 Jahre) ist es die erste Unplugged-Tour. «Wir haben so viele Geschichten gehört, dass wir das Gefühl haben, dabei gewesen zu sein.»
In den 21 Jahren hat sich in jeder Beziehung einiges getan. «Nic macht als Entertainer einen super Job», so Leoni. «Und unser Rucksack ist ebenfalls grösser geworden. Wir haben mehr Lieder, mehr Erfahrung.» Auch die Regeln im Bus haben sich geändert. Hatten Gotthard früher Gäste und Partys an Bord, heissts heute gemäss Schlagzeuger: «Keine Girls, Groupies und so Schissdräck.»
Der Crew ist es zudem untersagt, das dicke Geschäft auf dem Bus-WC zu erledigen. Deshalb heissts in der Nacht Backen zusammenkneifen bis zum nächsten Halt. Blöd ists, wenn der Catering-Service des Veranstalters wie tags zuvor zum Znacht Chili con Carne serviert. «Sonst gibt es ständig Riz Casimir, weils billig ist», so Hena Habegger, der sich zur Mittagszeit über die Wienerli freut.
Alle Dialekte verstehen? Ein Ding der Unmöglichkeit
Im Saal baut Corinne «Cöri» Hammer, 39, ihren Merchandising-Stand auf. Seit zehn Jahren begleitet sie Gotthard an die Konzerte. «Das Geschäft rentiert», so die Bernerin. Der erste Kunde kommt: Hena hat seine Schlafshirts vergessen und kauft Cöri zwei Modelle Silver Vintage, Grösse S, ab.
Beim Soundcheck wird eifrig an Details gefeilt. «Bei Unplugged-Konzerten kann ich mehr mit meiner Stimme spielen», so Nic Maeder. On Stage gibt der Schweiz-Australier zudem witzig sein Deutsch zum Besten. Seit Ende 2017 nimmt er Unterricht. «Die anderen freuts, dass ichs probiere. Aber all ihre Dialekte zu verstehen, ist unmöglich!»
Marc redet Baseldytsch, Freddy zürchert, Hena ist Berner, und Leo spricht Mundart mit Tessiner Akzent. Essen bestellen kann Nic jedenfalls: «Ich hätte gern zwei Kilo Tomaten.» Mit einem Satz trumpft er beim Abendessen um 18 Uhr auf: «Kannst du mir bitte das Hähnchen geben?» Es gibt: Riz Casimir!
Während Mr. Big vor ausverkauftem Haus mit dem Hit «To Be With You» die Stimmung anheizt, ist diese backstage angespannt. Freddy füllt «Jacky» in die Gläser, Nic mischt sich was zum Gurgeln, Marc putzt die Zähne. Tourmanager Ingo Joa ruft zum Go. Die Musiker formieren sich zum Kreis, schreien «Fuck! Fuck! Fuck!» – jetzt erst beginnt der Rock ’n’ Roll!