Zehn Uhr morgens, und schon muss der Profisportler ganz kurz wieder gegen den Schlaf kämpfen. In seinem Wohnzimmer im Eigenheim hoch über Chur lehnt sich Nino Schurter, 29, auf dem Sofa zurück und legt sich Lisa Sophia ganz behutsam auf die Brust. Die Kleine hat eben ihren Schoppen getrunken und fällt bäuchlings auf dem Papi liegend in einen tiefen, zufriedenen Schlaf. Das steckt an. «Heute hat sie uns um sieben Uhr geweckt. Für mich als Langschläfer ist das ziemlich früh», sagt Nino. Mama Nina, 29, blickt die beiden liebevoll an und sagt strahlend: «Was für ein schönes Bild. Lisa ist zum Glück sehr pflegeleicht und Nino der perfekte Vater.»
Vater und Tochter harmonieren tatsächlich von der ersten Minute an perfekt. Klein Lisa scheint schon mit dem notwendigen Verständnis für den Beruf ihres Papis zur Welt gekommen zu sein. Auf Mitte Oktober war der Geburtstermin errechnet. Und das brachte den weltbesten Mountainbiker in Bedrängnis.
Wichtiger als jeder Sieg ist mir, dass zu Hause alle gesund sind
Denn just an jenem Datum fand in Rio das Testrennen für den olympischen Cross-Country-Lauf im kommenden August statt. «Keine Frage, ich wäre nicht nach Brasilien geflogen, wenn wir noch auf die Geburt hätten warten müssen», erklärt Schurter. In dem Fall aber hätte Nino die wichtigste, weil einzige Standortbestimmung in Bezug auf die Olympiastrecke gefehlt. Doch Lisa hatte ein Einsehen. Zwei Wochen zu früh setzten bei Nina die Wehen ein, und am 3. Oktober kam das Mädchen im Kantonsspital Chur putzmunter zur Welt. Schurter konnte so nach Rio reisen, gewann ohne grosse Vorbereitungszeit das Rennen gegen die versammelte Weltelite und kehrte schleunigst wieder in die Schweiz zurück zu «seinen zwei Frauen».
Nina und Nino Schurter wussten schon früh, dass sie Eltern einer Tochter werden. «Ich habe während der Ultraschall-Untersuchungen mit dem Handy mitgefilmt, und da sahen wir schnell, dass es ein Mädchen wird», erinnert sich der Bike-Star. Schnell stand fest, wie sie heisst. «Der Name Lisa gefiel uns einfach, und ich hätte als Mädchen auch so geheissen.» Für das seit Jugendtagen liierte Paar aus dem Bündnerland ist das Baby ein «absolutes Wunschkind». 15 Monate nachdem sie geheiratet hatten und am Ende einer langen Rennsaison erschien den Schurters der Zeitpunkt für die Familiengründung perfekt. Papa Nino bereitete sich mit jener Seriosität auf die neuen Lebensumstände vor, für die er auch als Rennfahrer bekannt ist. So teilt sich das Paar nun die Betreuungsaufgaben für Lisa zu gleichen Teilen auf. Der stolze Vater gibt der Tochter den Schoppen, wickelt sie, badet sie und steht in der Nacht auf, wenn die Kleine Hunger hat. Nur einen Bereich überlässt er ganz seiner Frau: «Mit dem Guetnachtliedli verschone ich Lisa lieber, Singen war noch nie meine Stärke.» Nina drückts lachend noch etwas deutlicher aus: «Ich singe ihm ein Lied vor, aber wenn er es nachsingt, erkennt man die Melodie überhaupt nicht mehr.»
Die Ankunft seiner Stammhalterin hat für den Bikeprofi nicht nur private Konsequenzen. Gerade hat der Sportler aus Tersnaus GR im Valsertal seinen Vertrag mit dem Team Scott um fünf Jahre verlängert. «Vielleicht erlebe ich in Tokio 2020 meine vierten Spiele.» Damit hat er sich trotz vielversprechenden Versuchen im Strassensport für das Mountainbike entschieden. «Ich bin eindeutig der Biker, schon von der Postur her.» Und das Leben als MTB-Fahrer scheint ihm deutlich familienfreundlicher. «Die Strassenfahrer sind wochenlang an Rundfahrten beschäftigt, bei uns sind es vielleicht 20 Renntage pro Jahr. Und bei den Trainingsaufenthalten kann die Familie problemlos dabei sein.» So ist geplant, dass Nina und Lisa den amtierenden Weltmeister im Februar nach Südafrika begleiten. Nina eilt es auch nicht mit einer Rückkehr in den angestammten Beruf als Arztsekretärin. «Da hätte ich fünf Wochen Ferien im Jahr, und wir könnten Ninos zahlreiche Auslandaufenthalte nicht als Familie geniessen.»
Auf die wichtigste Dienstreise des Jahres 2016 nach Rio wird Nino Schurter indessen ohne seine Liebsten gehen. «Wir haben in London gesehen, wie hektisch und ausgelastet der Olympia-Alltag ist. Da hatten wir nicht viel voneinander. Und die lange Reise nach Brasilien für die wenige Zeit auf sich zu nehmen, wäre vor allem für unsere Kleine eine Zumutung.» Nach Bronze 2008 in Peking und Silber 2012 in London ist Gold in Rio der logische Karriere-Höhepunkt. Doch davon lässt sich der Routinier nicht verrückt machen: «Meine Prioritäten im Leben haben sich seit Lisas Geburt verschoben. Wichtiger als jeder Sieg ist mir, dass zu Hause alle gesund sind.» Was nicht heissen soll, dass sich Lisas Eile bei der Geburt nicht goldig auswirken könnte.