Das musst du als Frau erst einmal verdauen. Wenn sich ein Hüne mit gfürchigen Zähnen und lautem Geschrei auf dich stürzt. Dich packt und zu Boden wirft und mit rauen Handschuhen dein Gesicht rubbelt, bis die Haut brennt. Die Rede ist von den Tschäggättä, die im Lötschental seit Jahrhunderten ihr Unwesen treiben. Unter gruseligen Holzmasken lehren mehrheitlich junge Männer die Bewohner das Fürchten. Oder Furchtlosigkeit. «Ein Mädchen, das mit solchen Bräuchen aufwächst, lernt schnell, sich zu wehren», sagt Sina, 52.
Sie ist so ein Mädchen. Die Walliser Sängerin erhält am diesjährigen Swiss Music Award (Samstag, 16. Februar) den Outstanding Achievement Award für ihr Lebenswerk. Als erste Frau überhaupt.
Sina, woran liegt es, dass vor Ihnen nur Männer diesen Preis erhielten?
Frauen sind auch in dieser Branche untervertreten. Denn an den Schaltstellen sitzen immer noch mehrheitlich Männer, die ihresgleichen bevorzugen. Es braucht eine Sensibilisierung bei Plattenfirmen oder an Festivals.
Eine Frauenquote auf Festivalbühnen?
Eine Quote macht in der Politik Sinn, nicht in diesem kreativen Umfeld. Aber es wäre gut, den Frauen in der Musik mehr Sichtbarkeit zu geben. Auch an Preisverleihungen.
Wie kommt es, dass Sie sich in diesem männerdominierten Umfeld an der Spitze halten konnten?
Ich hatte tolle weibliche Vorbilder. Von meiner Mutter über meine Grossmutter bis hin zu meiner Stiefmutter, die meine zweite Mutter wurde. In meiner Familie waren immer die Frauen das starke Geschlecht.
Nehmen auch Sie diese Rolle ein?
Privat ist es sehr ausgeglichen. Mein Mann schmeisst den Haushalt. Er übernimmt von der Organisation unseres Alltagslebens einen grossen Teil, kocht oft, was ich kaum mache. Unsere Stärken sind unterschiedlich verteilt.
Video: Sina schnitzt Masken für die Tschäggättä
Mit dem Musiker Markus Kühne lebt Sina seit 15 Jahren in der Nähe des Hallwilersees im Kanton Aargau. Doch das Wallis ist ihre Heimat geblieben. Oft telefoniert sie mit Verwandten. Und einmal im Monat kommt sie zurück.
Im Lötschental, wo die kleine Ursula Bellwald, wie Sina mit bürgerlichem Namen heisst, ihre ersten Lebensjahre und später alle Ferien verbrachte, kennt sie jeder auf der Strasse. Loipenwart Dominic Ebener, 41, erzählt ihr begeistert von seinem neuen Pistenbully. «Schade, wird er erst nächste Woche geliefert. Er hätte auf einem Erinnerungsfoto mit dir so gut ausgesehen!»
Maskenschnitzer Heinrich Rieder, 53, springt Sina förmlich an – ganz in Tschäggättä-Manier –, um ihr seine neuesten Kunstwerke zu zeigen. Sie nutzt die Gelegenheit, um nach dem Ursprung des Brauchs zu fragen. Ein ungelöstes Rätsel, sagt Rieder. Vielleicht seien die Tschäggättä Diebe gewesen, die vermummt auf Raubzüge gingen. Vielleicht auch Schamanen. «Die Wahrheit ist: Die haben sich von meinem Haarschopf inspirieren lassen», meint Sina lachend und zieht eine Wollmütze über ihre widerspenstige Mähne, die sich an diesem Tag nur mit mehreren Spängeli am Hinterkopf in Schach halten lässt.
Auch Astrid, die Kellnerin im Hotel Nest- und Bietschhorn, weiss noch, dass sie den Gast als kleines Mädchen «Muisi» (Mäuschen) nannte.
Woran erinnern Sie sich, Sina?
Mein Vater war Postautochauffeur im Tal. Er hat uns jeweils
mit auf seine Tour genommen.
Ich weiss noch, dass wir irgenwo zu- und woanders wieder
ausgestiegen sind. Einfach, um ein wenig mit ihm unterwegs zu sein.
Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Mutter?
Sie starb an einem Hirntumor,
als ich fünfeinhalb Jahre alt war. Vieles ist verblasst. Sicher war ich ein Wunschkind wie auch mein kleiner Bruder. Unsere Mutter hat uns viel Liebe auf den Weg gegeben. Genug, dass es für ein ganzes Leben reicht.
Vermissen Sie sie?
Ja. Eine Mutter ist einzigartig, sie lässt sich nicht ersetzen. Deswegen habe ich auch kein Verständnis dafür, wenn jemand mit seiner Mutter bricht. Konflikte können vorkommen, aber man muss sich bemühen. Es kann schnell zu spät sein. Ich konnte mich nicht von meiner Mutter verabschieden, das hat mich geprägt.
Eine Mutter ist einzigartig, sie lässt sich nicht ersetzen.
Wie wirkt sich das aus?
Heute sage ich meinen Liebsten immer zweimal Lebwohl. Die kennen das schon. Ich verabschiede mich, wende mich zum Gehen und halte dann noch einmal inne, um den Moment bewusst wahrzunehmen.
Innehalten und bewusst wahrnehmen, das macht Sina auch auf ihrem neuesten Album. «Emma» ist ihrer Grossmutter gewidmet, die sie als Halbwaise bei sich aufgenommen hat. Der gleichnamige Song handelt von einer Frau, die hart arbeitete, um beide Rollen auszufüllen: Sie habe «die Fälder gepflüegt und Polenta gebratä», heisst es im Lied. Emma habe eine Haut zu wenig und ein Herz zu viel gehabt, singt Sina weiter. «Ich erkenne mich in ihr wieder», gibt Sina zu.
Sechs Jahre verbrachte sie mit Grossmutter und deren zwei ledigen Töchtern in einem reinen Frauenhaushalt. «Wie diese drei Frauen sich in einem männergeprägten Umfeld eine eigene Welt schufen und sich nicht unterkriegen liessen, das war mir eine Schule fürs Leben.»
Wann müssen Sie sich als Frau behaupten?
Ich werde immer wieder gefragt, wer denn eigentlich meine Songs schreibe. Die männlichen Musiker, die ich kenne, hören solche Fragen selten. Einer Frau traut man oft nicht zu, ohne Hilfe Erfolg zu haben.
Mussten Sie sich als Frau für den Erfolg je verbiegen?
Als Schülerin habe ich in Gampel in einem Restaurant gearbeitet und musste mir immer wieder Hände auf dem Hinterteil gefallen lassen. Als junge Sängerin haben meine Produzenten mich stets unterstützt. Auch als ich ein Lied über lesbische Liebe schrieb, setzten sie sich bei der Plattenfirma dafür ein, obwohl diese
befürchtete, es könnte meinem Image schaden. Zweimal bin ich in Situationen geraten, in denen ich heute anders reagieren würde.
Was ist passiert?
Zum Beispiel entpuppte sich eine Einladung nach München, bei der es um die Titelmelodie für einen Film gehen sollte, als Softporno-Casting.
Wieso stellten Sie die Verantwortlichen nicht an den Pranger?
Heute würde ich das tun. Aber die Vorfälle sind 20 Jahre her, die Verantwortlichen nicht mehr im Showbusiness tätig. Ich mag mich nicht mehr damit konfrontieren.
Stattdessen sind Sie nun mit dem Preis für ein Lebenswerk konfrontiert. Das tönt abschliessend.
Allein, dass ich gerade mein 13. Album herausgegeben habe, zeigt, dass ich nicht vorhabe, meiner Musik einen Schlusspunkt zu
setzen.
Es enthält 13 Songs. Abergläubisch scheinen Sie nicht zu sein.
Schwarze Katzen machen mir nichts aus, aber ich glaube an Glückszahlen. Die 13 ist so eine
für mich. Wohl auch wegen
der 13 Sterne auf dem Walliser
Wappen.
Ein einziges Mal in ihrer ganzen Kindheit hat Sina die Ferien nicht im Lötschental verbracht. Mit 15 sah sie zum ersten Mal das Meer. Alle anderen Kinder hatten schon davon geschwärmt. Da gab der Vater nach und fuhr mit Sina nach Rimini.
«Ich weiss nicht, was ich erwartet habe. Aber ich stellte fest, dass ich nirgends wohler bin als im Tal, in dem ich geboren wurde», sagt Sina. «Die Felswände haben mich nie eingeengt. Im Gegenteil, ich fühle mich bei jeder Rückkehr umarmt vom Lötschental.»