In Südfrankreich besagt eine Legende, dass junge Menschen nachts nicht an einem Tuberosefeld vorbeispazieren dürfen, weil der Blumenduft sie auf erotische Gedanken bringe. Dass darin eine Wahrheit liegt, davon ist Aurélien Guichard, Parfümeur in siebter Generation, überzeugt.
2019 gründete er seine Marke Matière Première, nachdem er für Häuser wie Guerlain, Versace und Giorgio Armani gearbeitet hatte. Mit familiärem und regionalem Know-how baut er Rosa centifolia, Lavandin und die betörende Tuberose für seine Duftkreationen auf einem 40 Hektaren grossen Landstück in der Nähe von Grasse in Südfrankreich an. Der Maler Henri Matisse hatte hier in der Region ein Haus, Beyoncé und Jay-Z sowie Herzogin Fergie und Familie verbringen ihre Ferien in der Gegend. Während der Blütezeit werden die wertvollen Blumen geerntet, bis zu 50 Kilo täglich im September.
Wie ein harmonisches Zusammenspiel von Musiknoten entsteht ein Parfum in sorgfältig aufeinander abgestimmten Schritten. Jede Blüte, jedes Molekül trägt zum Gesamterlebnis bei, so wie eine Musikerin jede Note spürt und formt, bis die Melodie entsteht. Die Zutaten werden in reiner Form gemischt und in Alkohol verdünnt, je nachdem in hoher oder niedriger Konzentration. Die Rohstoffe sind flüssig wie beispielsweise Rosenöl oder -absolue. Es gibt aber auch feste Bestandteile, erklärt Guichard. Steinige Harze oder ein Stück Weihrauch beispielsweise werden in den Duft «geschmolzen». Dann gibt es Puder, aus der Natur extrahierte oder durch Chemie hergestellte synthetische Noten.
Wo liegt der Unterschied zwischen Rosenöl und Rosenabsolue?
Aurélien Guichard: In der Extraktionsweise des Blumendufts. Für ein Absolue verwendet man flüchtige Lösungsmittel. Daraus entsteht eine honigartige Textur. Man trennt den wachsartigen Teil vom olfaktorischen und erhält Rosenabsolue. Rosenöl jedoch gewinnt man durch simple Wasserdampfdestillation: Dampf kocht durch Blütenblätter, dann kühlt er ab, und es fällt Wasser, voll von Duftöl, herunter. Das funktioniert auch mit einer Kaltextraktion der Blüte, wobei da Kohlendioxid verwendet wird. Oder man macht eine Enfleurage: Bei dieser Technik legt man die Blütenblätter auf ein Wachsbett und erhält etwas, das weder Öl noch Absolue ist.
Mit dieser Palette von Zutaten – wie lange brauchen Sie, um einen neuen Duft zu erstellen?
Es kann über ein Jahr und 2000 Versuche dauern. So war es bei Radical Rose. Bloss zehn Versuche brauchte ich hingegen für Crystal Saffron. Manchmal gelingt etwas auf Anhieb. Es ist wie beim Schreiben eines Liedes, einige der besten Songs entstanden in 20 Minuten.
Was macht ein gutes Parfum aus?
Die Frage des Verhältnisses. Es muss fein duften, und beim Tragen sollte es Kommentare auslösen. Das ist für mich die Rolle eines Parfums.
Guichard arbeitet mit wenigen Inhaltsstoffen und wünscht sich, dass man die Kraft und Schönheit des Rohstoffs mit allen Sinnen wahrnimmt. Eine Frage, der er nachgeht: Wie kann man den Duft der Begierde einfangen? Der Legende nach ist er mit seinen Tuberose-Feldern auf dem richtigen Weg.