«Seit dem Lockdown gibt es ein Gefühl der Freiheit auf dem Kopf», sinniert Friseur Luke Hersheson bei der britischen Vogue. «Man konnte eine zeitlang keinen Salon besuchen, konnte die grauen Haare nicht mehr überfärben». Heute würden das viele seiner Kundinnen geniessen. Grau zu sein. Und schaut man sich die Street-Styles des vergangenen Fashion Monats an, scheint tatsächlich ein Umdenken statt zu finden. Man sieht mehr Frauen mit ungefärbter Mähne.
Wer weiss, ob sich wirklich mehr damit zeigen oder ob sie schon immer da waren – jetzt einfach öfter abgelichtet werden, weil mittlerweile auch die Fotograf*innen mitbekommen haben, dass die Riege der modisch einflussreichen Gäste nicht nur aus 20-jährigen, blonden Influencer*innen besteht. Wäre beides begrüssenswert.
Bis anhin galt: Wer färbt, schützt sich also davor, als «graue Maus» zu enden: Kaum beachtet, in der Grauzone des Lebens. Die Nichtfarbe Grau steht bei diversen alltäglichen Redewendungen für das Verschwinden von Lebendigkeit. In Wahrheit gibt es übrigens nur zunehmend weniger pigmentierte und damit weiss erscheinende Haare (nicht grau), weil sich der Farbstoff Melanin aus ihnen verflüchtigt. Wie grau der Kopf aussieht, hängt also vom Restanteil der ursprünglichen Haarfarbe ab.
Wo waren sie bisher? Warum wurden sie überfärbt?
Es sind aber nicht nur die anderen. Auch die Frauen selbst urteilen, dass alt aussehen keine gute Idee ist. Eine Auswertung qualitativer Tiefeninterviews mit Frauen zwischen 71 bis 94 Jahren an der Universität Cambridge, ergab im Jahr 2010: Der Grossteil der Befragten assoziiert graues Haar mit Hässlichkeit, Abhängigkeit, schlechter Gesundheit, sozialer Abgrenzung und Unsichtbarkeit. Doch nun versuchen einige, ihre grauen Haare mit mehr Selbstbewusstsein zu tragen (wie auch gesehen an den Modewochen).
Mutig? Eine Studie der University of Exeter aus dem vergangenen Jahr trug den Titel: Wer es wagt, ergraut herumzulaufen, riskiert etwas. Darin beschreiben Frauen, dass sie sich zwar wohl dabei fühlten, ihr natürlich graues Haar nicht mehr zu verstecken und es selbstbewusst zu zeigen, zugleich aber die Erfahrung machten, dafür als inkompetent oder ungepflegt angesehen zu werden.
Doch erstmals zeigt sich hier auch so etwas wie schwesterliche Solidarität innerhalb der weiblichen Fokusgruppen. Deutet sich gar ein Mentalitätswechsel an? Ungeachtet der negativen Konsequenzen wollten es die meisten für diese Studie interviewten Frauen bei ihrem grauen Haar belassen. Die Befragungen fanden bereits in der Pandemie statt. Für eine generelle Umdeutung, dass graues Haar auch an Frauen als Zeichen von Reife und Erfahrung gilt, brauchen wir aber vermutlich noch sehr viel mehr Zeit. Und mehr Beispiele. Hier, wie versprochen: ein paar von der Fashion Week.