Ein Sofa. Eine 25-Jährige und ihre Mutter. «Ich wurde mit jedem Tag müder», erzählt die Tochter, «müde, ständig den Schein zu wahren, ständig so zu tun, als sei alles okay.» «Wir alle haben uns etwas vorgemacht. All die Jahre habe ich gemeint, du hättest ein Drogenproblem. Ich dachte, das sei alles. Bis du versucht hast, dir das Leben zu nehmen.» Camilla Lowther blickt zu ihrer Tochter, ihre Augen sind feucht, rot. «Das ist das Schlimmste an Depressionen. Sie lassen sich mit blossen Augen nicht erkennen.» Offenheit, die uns als Zuschauer berührt. Die Tochter und ihre Dämonen. Die Mutter, die so offen dazu steht, diese nicht wahrgenommen zu haben.
Das Video entstand im Rahmen von Heads Together, einer von der britischen Königsfamilie initiierten Kampagne zur Förderung geistiger Gesundheit. Star dieses spezifischen Videos: Adwoa Aboah, 25, Engländerin. Seit dem 5. September 2017 Woman of the Year des britischen «GQ», des renommierten Männermagazins. Seit dem 4. Dezember 2017 Model des Jahres des British Fashion Council. Sie thront auf den Covers von bedeutenden Modetiteln wie «Vogue Italia», «i-D», «Dazed», «Love», «Business of Fashion». Zuletzt auf der «British Vogue», der ersten Ausgabe unter dem neuen Chefredaktor Edward Enninful, dem wohl meistbeachteten Printmagazin vergangenen Jahres. Sie lief für Dior, Marc Jacobs, Fendi, Chanel über den Laufsteg. Liess sich für den Pirelli-Kalender ablichten und ziert Kampagnen für Marken wie Miu Miu, Theory, H & M. Die Industrie liegt ihr zu Füssen. Der Rest der Welt anscheinend genauso. Adwoa Aboah, Model of the Moment, Face of a Generation. Knapp eine halbe Million Menschen folgen ihr auf Instagram, liken ihre Bilder, lesen, was sie zu sagen hat. Und genau da liegt der feine Unterschied zu all den It-Models, die vor ihr kamen.
Vom Problemkind zum Topmodel
Aboah wird in London geboren. Mutter Camilla Lowther ist eine erfolgreiche Fotoagentin, Vater Charles Aboah ist gefragt als Location-Scout. Der Familie geht es gut, sie gilt als privilegiert. Als Aboah mit fünfzehn mit Drogen zu experimentieren beginnt, ist das in ihren Kreisen an sich nichts Besonderes. Ausser vielleicht der Grund dafür: «Kürzlich hat mich jemand gefragt, ob ich glaube, dass manche Menschen einfach traurig geboren werden. Das tue ich. Ich glaube, ich war schon immer traurig, irgendwie», sagt Aboah. Die Drogen helfen, weniger zu fühlen. Mit Freunden, an Partys, allein daheim im Schlafzimmer. Der Konsum artet aus, Aboah verliert sich. Die Eltern intervenieren. Als sie ihre inzwischen 21-jährige Tochter zum Entzug in die USA schicken, haben Camilla und Charles noch immer keine Ahnung, dass die Drogen nur Teil des Problems sind. In der Abgeschiedenheit des Instituts in Arizona arbeitet Aboah intensiv an sich selber, lässt sich helfen, scheint nach einigen Monaten von ihren Süchten befreit. Diagnose: clean. Doch die Rückkehr nach London ist hart. «Nach aussen schien ich geheilt, aber ich war einfach nur müde. Und alles tat weh.» Im November 2014 versucht sie, sich mit einer Überdosis das Leben zu nehmen. Der Versuch scheitert. Und die junge Frau findet endlich einen Weg, an dem Problem zu arbeiten, das sämtlichen anderen zugrunde liegt.
Gemäss dem Schweizerischen Gesundheitsobservatorium (Obsan) leiden rund achtzehn Prozent aller Schweizer an einer Form von psychischer Erkrankung. Während gewisse wie Burn-out durch Stress in manchen Kreisen fast schon zum guten Ton gehören, werden doch die meisten davon im Stillen ertragen. Auch wenn wir vieles in den letzten Jahrzehnten zum Gesprächsthema machen konnten – die eigenen Imperfektionen und Dämonen mögen wir am wenigsten teilen. Und genau hier setzen sie an, die Model-Activists, eine neue Model-Spezies, die mehr will, als nur schön zu sein. Es sind junge Frauen mit grossem Erfolg, mit einer grossen Gefolgschaft – und Problemen, die sie nicht verheimlichen wollen. Sie machen ihre persönlichen Unzulänglichkeiten öffentlich und hängen den Kampf mit ihren Dämonen an die grosse Glocke. Sie erzählen der ganzen Welt davon, mit dem Leben nicht zurechtzukommen, dem Idealbild nicht zu entsprechen. Sie lehnen sich auf gegen Diskriminierung, sie geben TED-Talks, sie posten Bilder mit Botschaft. Sie kritisieren ungehemmt, in voller Lautstärke genau die Industrie, der sie den eigenen Ruhm verdanken. Ohne Rücksicht auf Verluste. Und sie gründen Plattformen, um jenen mit ähnlichen Schicksalen zu helfen.
Die neue Model-Aktivistin
Aboah launchte ihre Website Gurls Talk, lange bevor sie die wurde, die sie heute ist. «Damals hatte ich kaum Followers und keine Ahnung, dass ich mal so erfolgreich modeln würde.» Hätte sie gleich offen aus ihrer Vergangenheit erzählt, wenn sie vom bevorstehenden Bekanntheitsgrad gewusst hätte? Aboah meint, sie hoffe es zumindest. Gurls Talk ist ein Forum, in dem sich Mädchen und Frauen ganz offen austauschen können. «Es bietet alles, was mir in meiner schweren Zeit damals gefehlt hat. Einen sicheren Ort, an dem man über alles reden kann, ohne Scham und ohne Stigma.» Es sei ihr bewusst, dass erst das Erzählen ihrer eigenen Geschichte den Dialog eröffnet habe. «Um Vertrauen zu gewinnen, muss man erst Vertrauen beweisen. Bevor die anderen erzählen, erzähle ich. Das fiel mir extrem schwer. Aber dann sah ichplötzlich, dass, egal wer wir sind und woher wir kommen, wir alle eigentlich mit denselben Problemen kämpfen.» Gurls Talk und alle Geschichten, die darauf veröffentlicht werden, sollen ein Gefühl von Zusammengehörigkeit und Identifikation schaffen. Und zwar nicht nur mit irgendwem von irgendwo. Sondern eben mit genau demjenigen Mädchen, dessen Coolness und vermeintliche Perfektion wir Tag für Tag bestaunen, die aber vielleicht gar nicht so anders sind, als der Rest der Frauen.
Eine wichtige Stimme für Frauen
Der Job habe ihr Selbstwertgefühl beeinflusst, erzählt Aboah. Sie sei zu klein, zu muskulös, zu dunkel – habe man ihr gesagt. Man brauche eine dicke Haut, um mit all der Ablehnung umgehen zu können. Wer nicht passt, ist raus. Und auch wenn du das Riesenglück hast, mit deinem Look den Zeitgeist zu treffen, auch wenn der grosse Durchbruch irgendwann kommen sollte: «Ich habe mich nie hübscher gefühlt, nur weil mein Gesicht auf einem Werbeplakat zu sehen war. Wenn du dich in deiner eigenen Haut nicht wohlfühlst, werden das auch alle Komplimente dieser Welt nicht ändern können.» Doch Aboah gewann etwas anderes: Gehör. Den mit dem Job verbundenen Bekanntheitsgrad sieht sie als Chance, für die sie immens dankbar ist. «Wenn du ein Selfie posten und dafür Millionen von Likes kriegen kannst, warum nicht deine Visibilität dazu nutzen, ein Zeichen zu setzen? Das ist es, was ich versuche.» Man müsse nicht zu allem eine Meinung haben. Sie wisse, welche Kämpfe sie ausfechten wolle. Und die mit vollem Herzblut.
Und so propagiert das Model mehr Offenheit, einen ehrlichen Austausch über all das, was wehtut. Betont die Wichtigkeit um das Wissen, mit seinen Problemen nicht allein zu sein. Gurls Talk etwa sei nichts anderes als eine Art Gruppentherapie. Nur halt unter dem Mäntelchen der digitalen Anonymität und – so denken wir – im Austausch mit einem Menschen, zu dem man aufschaut, der einem als Vorbild dient. Aboah ist die coole grosse Schwester, die wir nie hatten. Wenn sie nicht klarkommt, ist es plötzlich weniger beschämend, dass wir es auch nicht tun. Und so schreiben ihr wildfremde Mädchen ihre Geschichten. Sie packen aus, erzählen ganz offen über ihre Essstörungen, die Suche nach der sexuellen Identität, Einsamkeit, Angst. Sie eröffnen den Dialog. Und das ist laut Aboah alles, was es braucht. «Ich war ganz unten, alles war dunkel und schrecklich. Dann habe ich einfach nur getan, was von mir verlangt wurde: Ich habe geredet. Und jetzt sitze ich hier und bin glücklich. Wenn Reden wirklich alles ist, was es dazu gebraucht hat … Ich kann noch immer nicht glauben, dass die Lösung so einfach war.»
Woran sie glaube, wird Aboah gefragt. Sie lächelt. «Heute an vieles. Ich glaube, dass ich geliebt werde. Dass ich nicht allein bin. Und ich glaube an Glück. Ich liebe mich selber nicht immer. Aber ich bin ziemlich okay.» Und wenn sie das schafft, schaffen wir es auch.