Erst zwei Jahre ist es her, dass Julia Seemann bei der Entwicklung ihrer Abschlussarbeit am Institut Mode-Design der HGK Basel die Nächte durchgearbeitet hat. Die Nächte wurden nicht kürzer seit der Gründung der Marke, die ihren Namen trägt. Die Designerin ist keine, die sofort «Hier! Ich!» schreit. Ihre Entwürfe tun das hingegen schon. Mit voller Wucht hat sie dem Publikum im September an der Mode Suisse im Zürcher Puls 5 ihre dritte Kollektion um die Ohren gehauen. Viele – auch uns – liess sie staunend in den Sitzen zurück. Heute treffen wir die 26-Jährige in ihrer Vierer-WG im Zürcher Quartier Wipkingen und begleiten sie später ins Atelier in Altstetten. «Man kriegt nicht den Foifer und s Weggli», sagt sie auf die Frage, ob ein WG-Zimmer zusammen mit ihrem Freund auf Dauer gross genug sei. S Weggli ist das eigene Label.
Style: Sie haben kurz nach Ihrem Bachelor Ihr Label gegründet. Ein grosser Schritt. Wie konnten Sie den finanzieren?
Julia Seemann: Meine Familie hat mich unterstützt; meine Eltern und vor allem der Freund meiner Mutter. So konnte ich eine GmbH gründen. Ausserdem habe ich einen Nebenjob.
In Zürich fällt man schon sehr auf, wenn man eine Ihrer Kreationen trägt. Haben die Schweizer den Mut dazu?
Ein Stück aus meiner Kollektion Kombination mit einer ganz schlichten Jeans, dieser Bruch funktioniert auch hier. Einzelnen Zürchern traue ich das auf jeden Fall zu.
Ist Ihnen schon mal jemand über den Weg gelaufen in Julia Seemann?
Ja, an der Mode Suisse. Er trug einen gelben Sweater aus der Capsule-Kollektion, die in Kollaboration mit der Luzerner Dark-Wave-Band Mittageisen entstanden ist. Ansonsten sehe ich auf Instagram ab und zu, dass Leute meine Sachen tragen. Zum Beispiel entdeckte ich mal einen Japaner in einer Jeans-Culotte aus meiner ersten Linie. Echt crazy! Jemand aus Tokio. Am anderen Ende der Welt.
Rihanna zeigte sich 2015 in einem Komplettlook von Ihnen. Ein Jeanskleid für die Denimliebhaberin. An wem würden Sie Ihre neuen Entwürfe gern sehen?
Ich glaube, auch die aktuellen Sachen würden Rihanna gut stehen. Und sonst – vielleicht an einem Rapper? Mykki Blanco zum Beispiel. Teile meiner Kollektion sind genderunabhängig. Die Glitzerjacke wäre perfekt für ihn.
Würden Sie einen Song von ihm bei Ihrer Schau laufen lassen?
Nein. Dazu passt eher «Driven Like the Snow» von Sisters of Mercy, eine Achtzigerjahre-Band im Gothic-Style.
Für wen machen Sie Kleider?
Das möchte ich nicht zu sehr eingrenzen. Sicher für eine Frau, die sich bewusst ist, wer sie ist. Selbstbewusst eben. Bodenständig. Ich verbinde meine Kleider stets mit einem gewissen Workwear-Charakter. Also diese Frau macht etwas, kämpft sich durch.
Ein bisschen so wie Sie?
Vielleicht. Obwohl ich meine Entwürfe nicht trage.
Warum nicht?
Bisher hat es nicht gepasst, ich habe meine Sachen nicht an mir gesehen. Allerdings trifft der Typ, den ich vorher beschrieben habe, schon auf mich zu: Ich will etwas tun und sicher was erreichen. Aber auch von solchen Frauen gibt es viele, wir sind nicht alle gleich.
Wie ist Ihr Look?
Ich ziehe mich meist schwarz an, weil das am einfachsten ist. Bequemlichkeit ist ein weiteres Kriterium. Ich habe es gern unkompliziert und mag mir nicht auch noch den Kopf darüber zerbrechen, was ich selbst anziehen soll.
Was inspiriert Sie?
Musik und Kunstbücher. Besonders solche zum Thema Konstruktivismus oder russische Avantgarde. Zudem jene über den Schweizer Max Bill. Mich sprechen Künstler an, die sehr flächig gearbeitet haben.
Welches Thema hätte ein Buch über Ihr Leben?
Es würde wohl von Zielstrebigkeit handeln. Davon, dass man das Ziel nicht aus den Augen verlieren soll. Selbst wenn es noch in weiter Ferne liegt.
Wie zum Beispiel vom eigenen Label leben zu können?
Genau. In der Schweiz kommt es halt sehr darauf an, wie man sich positioniert. Für meine Mode ist der Markt definitiv zu klein. Also muss ich meine Fühler ins Ausland ausstrecken. International denken.
Was hält Sie noch in Zürich?
Familie und Freunde. Dazu kommt, dass ein Umzug in eine andere Stadt nur schon logistisch einen Riesenaufwand bedeuten würde. Man muss sich dort alles neu aufbauen. Falls wir – damit meine ich meinen Freund und mich – planen würden, nach London zu gehen, bräuchte ich ein Atelier. Er einen Job. Ich vielleicht eine Arbeit nebenbei. Das passiert nicht von heute auf morgen.
Warum denken Sie gerade an London?
Das ist die Stadt, die mich am meisten fasziniert. Meine Entwürfe sind unter anderem stark von Musikrichtungen beeinflusst, die ihren Geburtsort dort haben. Vom Vibe her passen meine Sachen am besten dahin.
Ihr Atelier befindet sich nun aber in der Agglo von Zürich. Wie designt man denn von dort aus Kleider, die in eine Trendmetropole passen?
Es spielt gar keine Rolle, wo man entwirft. An solchen Orten können unter Umständen sogar noch mehr Ideen aufkommen, da man keiner Reizüberflutung ausgesetzt ist. Darum kann man sich besser fokussieren. Natürlich ziehe ich meine Inspiration auch daraus, wie andere angezogen sind. Ich entdecke aber sogar in Altstetten Menschen, bei denen ich denke: «Hey, der ist jetzt supercrazy gekleidet» – im positiven Sinne. Ich schaue mir Street-Styles im Internet an und lasse mich zusätzlich – wie schon gesagt – von Musik und Kunst leiten. Von daher kann man ganz gut in der Agglomeration eine Kollektion auf die Beine stellen. Es kommt erst auf den Standort an, wenn es um die Vermarktung, die PR oder Celebrity-Stylings geht. Die Schweiz ist bekannt für Banken, Uhren und Schokolade. Für Mode noch nicht unbedingt. Denken Sie, dass es darum schwer ist für junge Schweizer Designer, Fuss zu fassen? Mode hat im Vergleich zur Architektur und Kunst einen zu geringen Stellenwert. Hier ist alles sehr geordnet, alles hat sei- nen Platz. Für Mode braucht es Leidenschaft ...
Vielleicht liegt so etwas Leidenschaftliches wie Mode einfach nicht in unserer Mentalität.
Was fehlt den Schweizern zum Chic?
Manchmal glaube ich, dass etwas derart Sinnliches und Körperliches wie Mode schlicht nicht der Schweizer Mentalität entspricht.
Wie haben Sie trotzdem zu Ihrer Berufung gefunden?
Jetzt wirds kitschig: Meine Grossmutter war Werklehrerin. Sie nähte zu Hause viel, zum Beispiel Röcke, Kissenbezüge ... Ich weiss noch genau, wie ich sie dabei beobachtete, als sie sich diesen Jupe nähte. Das hat mich so fasziniert! Die Tatsache, dass man sich selbst Kleider nähen kann – mit einer Maschine. Entscheiden, wie sie aussehen sollen. Das wollte ich auch. Ich habe mir mit ihrer Hilfe genau den gleichen gemacht. In klein. Da war ich etwa neun Jahre alt. Ab diesem Zeitpunkt habe ich begonnen, alte Modeheftchen von meiner Gross- mutter und meiner Mama anzuschauen. Mit zehn Jahren hab ich eine Bernina- Nähmaschine bekommen, die jetzt noch bei mir im Atelier steht.
Haben Sie sich von da an selbst aus gestattet?
Sozusagen. Ich habe in der Primarschule begonnen, mir Hosen zu nähen. Ohne professionelle Kenntnisse natürlich. Die wurden halt irgendwie zusammengenäht. Das erste Kleidungsstück, das ich mir ganz allein gemacht habe, war ein Trägeroberteil aus einem Stoff mit Sternenprint. Meine Mama war total aus dem Häuschen, als ich es ihr gezeigt habe.
Wie waren Sie als Kind?
(Lacht.) Ich war ein bisschen «weird». Ich konnte mich stundenlang allein beschäftigen. Zum Beispiel habe ich alle meine Spielsachen auseinandergenommen. Es gab kein einziges intaktes Spielzeug in meinem Zimmer, weil ich alles zerpflückt und dann wieder zusammengeklebt habe.
Mit welcher Absicht?
Ich wollte eine Zeit lang Erfinderin werden, da war ich circa sechs. Meinen ersten Taschenrechner habe ich aufgeschraubt; es nahm mich wunder, was da drin ist. Den Inhalt habe ich auf einen Karton geklebt, und voilà: Schon hatte ich das Gefühl, eine neue Maschine kreiert zu haben. Ich besass ausserdem ein Mikroskop, das ich geliebt habe. Für Puppen habe ich mich übrigens nicht interessiert, abgesehen von deren Kleidung. Wenn ich bei meiner besten Freundin mit Barbies spielen musste, fand ich das schrecklich.
Wovon sind Sie heute besessen?
Von Essen. Schlafen. Und Mode natürlich!