Sehr geehrte Lesende,
gefällt Ihnen diese Anrede nicht? Dann sind Sie nicht allein. Geschlechtergerechte Sprache ist unbeliebt. Dabei soll sie unsere Welt fairer machen, indem sie neben dem generischen Maskulinum in der deutschen Sprache alle Gender sichtbar macht. Nämlich auch die, die nicht diesem veralteten gesellschaftlichen Konstrukt des Entweder-oder entsprechen. Das dürfte doch keinem wehtun? Und die Menschen, die sich halt wirklich, wirklich ganz fest an die klare Trennung der Geschlechter gewöhnt haben, rufen: «Hold my drink!» Das heisst so viel wie: «Halt, stopp, Einspruch!» Genderwahn! Aber hier kommt Indya Moore. Model. Neuer Netflix-Stern. Moore ist transgender. Nicht binär. Bedeutet: Weder sie noch er. Denn es gibt nun einmal nicht nur weiblich und männlich. Es gibt noch mehr.
Hey, Indya Moore!
Wir haben Sie, Indya Moore, das erste Mal in «Pose» gesehen. Da war die FX-Produktion im Frühling gerade auf Netflix Schweiz angelaufen. Die Serie passt ganz wunderbar in die LGBT-Offensive des Streaminganbieters, zu der auch der Dokuklassiker «Paris Is Burning» und die Dragpionier-Geschichte «The Death and Life of Marsha P. Johnson» zählt. Bereits vor dem Start machte die Produktion Schlagzeilen, weil hier vor und hinter der Kamera so viele Transgendermenschen beteiligt waren wie bei keiner Serie zuvor. Gut so. Das ist revolutionär. Denn wir erinnern uns beispielsweise an Jared Leto, der in «Dallas Buyers Club» eine Transfrau, die in den Achtzigerjahren an Aids erkrankt war, gespielt hat. Wenn es nämlich in der Vergangenheit überhaupt Transmenschen als Filmfiguren gab, wurden die Rollen meist mit Cis-Schauspielern besetzt.
Kurzer Exkurs zum Verständnis: Der Zusatz «cis» beschreibt Menschen, deren Geschlechtsidentität mit ihrem biologischen Geschlecht übereinstimmt. Transgender sind solche, bei denen das eben nicht übereinstimmt. Exkurs-Ende.
Die Serie «Pose» malt also nun, quasi als fiktionales, auf acht Folgen gestrecktes Pendant zu «Paris Is Burning», ein Bild des Alltags einer New Yorker Subkultur und der seit 1990 existierenden sogenannten Ballrooms. Dabei wurde die Tür zu diesen opulenten Bällen weit aufgestossen. Weit genug, damit man sah, wie verschiedene «Häuser» und ihre Mitglieder spätnachts in dramatischen Kostümen um Trophäen konkurrierten. Um die Anerkennung, die sie sonst nie bekamen.
Da ist Damon (Ryan Jamaal Swain), der von seinen Eltern herausgeworfen wurde, weil er schwul ist, und der Tänzer werden will. Blanca sorgt dafür, dass er an der renommierten New School for Dance aufgenommen wird. Da sind Sie, Indya Moore, als Angel, die eine Affäre mit einem verheirateten weissen Familienvater anfängt. Der weiss nicht, wo ihm der Kopf steht: Wenn er auf ein Transmädchen steht, ist er dann – schwul?
Indya Moore alias Angel
Zwischendurch tanzen sie. Die schwarzen, lateinamerikanischen Schwulen, Transpersonen und Drag-Queens erschufen dabei einen Tanzstil aus Modelposen, wie sie in Magazinen wie der «Vogue» zu sehen waren. Das Vogueing – darüber staunte die Welt damals.
Und heute staunen wir über Sie, Indya Moore. Ihre Verkörperung der Prostituierten Angel Evangelista. Seither Ihr Aufstieg. Designer Nicolas Ghesquière ist auf Sie aufmerksam geworden, hat Sie für das Prefall-Lookbook 2019 des französischen Labels Louis Vuitton als Model engagiert – gemeinsam mit Schauspielkolleginnen Michelle Williams und Jennifer Connelly. In die erste Reihe von Fashion-Shows wurden Sie auch bereits eingeladen – eine Ehrerbietung in der Modebranche. Und bald sehen wir Sie in der kommenden Calvin-Klein-Kampagne als Gesicht der Pride Collection. Auf Social Media haben Sie mittlerweile knapp 700 000 Abonnenten (104 000 auf Twitter, 577 000 auf Instagram). Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, allen zu zeigen, dass man alles sein kann. Eine schwere Last, die da auf Ihren erst 24-jährigen Schultern liegt. Sie wollen dafür kämpfen, durch Ihre Rollenwahl, über Social Media oder auch einfach nur durch Ihre starke Präsenz, dass Sie so wahrgenommen und akzeptiert werden, wie Sie sein möchten. So, wie Sie sich fühlen, nicht als das, was die Gesellschaft für Sie vorsieht.
MX Indya Moore
Wir sprechen Sie, Indya Moore, so an, weil Sie sich weder als Frau noch als Mann definieren lassen wollen. Im Englischen wurde für die geschlechtsneutrale Anrede Mx (zusätzlich zu Ms, Mrs und Mr) in den «Oxford English Dictionary» aufgenommen. Ausserdem wird im englischen Sprachraum «they» als Ersatz für «she» oder «he» eingesetzt. Und in Schweden wurde offiziell ein neutrales Pronomen eingeführt. «Hen» als Alternative zu «han» (er) und «hon» (sie). In der deutschen Sprache jedoch werden Menschen, die sich wie Inter- oder Transsexuelle keinem eindeutigen Geschlecht zuordnen können, ausgeschlossen. Gemäss Angaben des Transgender Network Switzerland geben 0,5 bis 3 Prozent der Bevölkerung an, sich nicht mit ihrem ursprünglichen Geschlecht zu identifizieren oder sich schlicht nicht als weiblich oder männlich zu definieren.
Sehr geehrte*r Indya Moore
Wir müssen Sie, Indya Moore, leider enttäuschen. Die Einführung eines angemessenen neutralen Pronomens? Davon sind wir hierzulande weit entfernt. Für das Nichtbinäre gibt es keine sprachliche Lösung. Auch der Genderstern (*) ist noch nicht amtlich abgesegnet. Geschlechtsneutrale Schreibweisen werden zwar erprobt, aber sie stossen auf Widerstand. Die Gründe? «Inhaltlich mag das den Vorstellungen von politischer Korrektheit entsprechen, es ist letztlich aber ein brachialer Eingriff in die Sprachnatur», schreibt der Chefredaktor eines Schweizer Mediums. Ja, was ist denn wohl wichtiger: Der Schutz der Sprache vor diesen bösen – durchaus zeitgemässen – Reformen oder die Rücksichtnahme auf Minderheiten?
Andere Meinungen? «Solche Sternchen oder auch das grosse I im Wortinnern verunstalten die Sprache, weil sie dazu führen, dass das geschriebene Wort der gesprochenen Sprache nicht mehr entspricht», so lautet ein ungemein umgangssprachliches Statement eines Schweizer Politikers gegenüber dem «Tagblatt».
Noch etwas, MX Moore
Wir fragen uns, ob die Leute, die gegen geschlechtergerechte Sprache sind, wissen, dass Transgenderpersonen signifikant häufiger Opfer von Gewalttaten werden, Depressionen haben und Suizid begehen? Das ergab eine Studie des amerikanischen National Center for Transgender Equality. Sie, Mx Moore, haben selbst in einem Interview mit der amerikanischen «Elle» von einem Selbstmordversuch in Ihrer Kindheit berichtet. Ihre puertoricanische Mutter war bei Ihrer Geburt eine Teenage-Mum, und Ihr Vater, aus der Dominikanischen Republik stammend, sehr religiös. Als Ihre Eltern merkten, dass Sie sich nicht maskulin genug verhielten, das heisst so, wie Sie es eigentlich gemäss Ihres Geschlechts hätten tun sollen, hätten diese Sie «diszipliniert». Mit vierzehn seien Sie in ein Heim gesteckt und von Familie zu Familie gereicht worden und seien in Berührung mit der Queer-Szene in New York gekommen. Ab da begannen Sie, Hormone zu nehmen. Ihr Spiegelbild begann Ihnen zu gefallen, aber die Depressionen blieben. «Ich war so allein!», sagten Sie in dem Interview. «Ich hatte niemanden, der hinter mir stand.» Sie wollten sich das Leben nehmen. Sie wollten sich erhängen, aber – ob Sie es gewollt haben oder nicht – Sie überlebten. Das Seil riss.
Je öfter Transgendermenschen Ablehnung durch ihre Umgebung erfahren, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie versuchen, sich das Leben zu nehmen. Natürlich ist das rein durch die Anpassung der Sprache nicht einfach behoben. Es braucht einiges mehr. Aber dennoch ist eine alle Gender umfassende Sprache etwas, nach dem sich Transpersonen wie Sie, Indya Moore, sehnen. Sie kämpfen über Instagram dafür, nicht einfach ein Pronomen aufgezwungen zu bekommen. Kein «sie», halt wegen der Optik, und auch kein «er», eben wegen der Geburtsurkunde.
Also, warum sollte Grammatik im Sinne des gesellschaftlichen Wandels eigentlich nicht veränderbar sein? Es könnte so einfach sein: Pronomen für alle. So angesprochen zu werden, wie man möchte, sollte eigentlich nichts sein, was man diskutieren muss. Man kann sich aber nun vorstellen, dass nonbinäre Personen gern ein Teil der Gesellschaft wären, der sprachlich abgebildet wird. Aber hey, man will ja nicht frech werden. Und noch ein weiterer verrückter Gedanke: Was, wenn die Sprache nur der Anfang ist?
Hochachtungsvoll, die Autorin.