Siebenhunderttausend Kilometer hat er auf dem Velo insgesamt abgestrampelt - 17 Mal um die Erde. Nun sitzt Ferdy Kübler auf der Terrasse seiner Attikawohnung in Birmensdorf bei Zürich. Neben ihm Ehefrau Christina, 62, beide halten ein Cüpli in der Hand.
«Mit Christina habe ich die liebste Frau der Welt. Ich bin zufrieden mit meinem Leben», sagt Kübler. «Wenn nur dieser Schwindel nicht wäre!» Seit einem Jahr plagen ihn Schwindelanfälle, besonders beim Aufstehen und Gehen. Ferdy lacht, wischt sich den Schweiss von der Stirn. «Jetzt bin ich halt nicht mehr 89. Mit 90 geht alles ein bisschen langsamer.»
Geistig ist Ferdy noch immer ein Sprinter. Auch mit 90 Jahren. Seinen runden Geburtstag feiert er diesen Freitag mit Christina und ein paar Freunden im Golfclub Unterengstringen ZH. «Varese 1951, da wars heiss!», erzählt er. «39 Grad im Schatten. 300 Kilometer. 4000 Höhenmeter. Ich litt wie ein Hund.» Kübler gewann, wurde Strassenweltmeister. 1950 hatte er die Tour de France gewonnen - «mein grösster Erfolg». Die Tour de Suisse entschied er drei Mal für sich: 1942, 1948 und 1951.
Aus Ferdy Kübler wurde Ferdy national. 1983 hat man ihn zum populärsten Schweizer Sportler der vergangenen hundert Jahre erkoren. Nicht nur seiner Erfolge wegen. Auch seine Nase machte Ferdy berühmt. Bis heute ist sie sein Markenzeichen geblieben. «Als Bub wurde ich ihretwegen gehänselt. Doch bald fanden die Frauen nicht nur meine Wädli attraktiv.»
2300 Rennen bestritt Kübler zwischen 1937 und 1957, an die 400 gewann er. Dank seinem legendären kampfbetonten Fahrstil. Die Schweiz liebte und verehrte ihn, den gut aussehenden Kämpfer. Er galt als Symbolfigur: Arbeit, Fleiss, Genügsamkeit. Kübler verkörperte den viel beschworenen Landigeist.
Zusammen mit vier Geschwistern wuchs Ferdy im zürcherischen Marthalen auf. In ärmsten Verhältnissen. Der Vater war «Irrenhaus»-Wärter und Velohändler. Einmal in der Woche habe es einen Cervelat gegeben. «Der Vater hat ihn gegessen. Wir Kinder stritten uns um die Haut.» Der Vater habe ihn oft geschlagen, «aus unerklärlichen Gründen». Mit 15 Jahren «chrampfte» Ferdy als Knecht, sparte jeden Franken und bastelte sich sein erstes Rennvelo. Doch eines Morgens fand er seinen Renner kaputt im Schopf. «Der Vater hatte ihn zersägt. Ich weinte bitterlich und floh von Zuhause.»
1937 bis 1939 arbeitete Ferdy als Ausläufer für ein Uhrengeschäft an der Zürcher Bahnhofstrasse. «Für zwanzig Franken in der Woche, ohne Logis.» 1938 hatte er endlich genug Geld beisammen, um sich sein erstes Rennvelo zu kaufen. «Ich trainierte wie verrückt, hatte den Übernamen Trainings-Weltmeister.» Dreimal pro Woche spulte Ferdy 270 Kilometer ab: von Zürich nach Reichenburg SZ, «wo mir ein Bäcker namens Kistler meinen Musette mit Guetsli füllte. Das war mein Proviant.» Dann gings über den Klausen nach Schwyz und über den Sattel und den Albis zurück nach Hause.
Für seine Siege an der WM und an der Tour de France habe er damals 5000 Franken bekommen. Richtige Draufgänger seien sie gewesen. «Mit 80 Stundenkilometern jagten wir auf Kiesstrassen die Pässe runter. Je schneller, desto schöner.»
Nach seiner Velo-Karriere arbeitete Kübler als Privat-Skilehrer. So brachte er beispielsweise Bundesrat Gnägi oder seinem Freund das Skifahren bei. Darauf folgten viele Jahre als Akquisiteur bei der Tour de Suisse.
Heute lässt es Kübler ruhiger angehen. Zwei- bis dreimal pro Woche fährt seine Frau Christina ihn zum Golfplatz. «Golfen ist unsere Passion.» Ferdy hat Handicap 22, wegen des Schwindels ist er mit einem Cart unterwegs. «Ich würde viel Geld zahlen, könnte ich zehn Jahre jünger werden. Dann ginge es mit dem Golfspielen besser.»
Ferdy seufzt. Daheim könne er seiner Frau nur noch beim Kochen helfen. Christina schmunzelt. «Bei der Salatsauce lässt sich mein Schatz überhaupt nicht dreinreden!», sagt Küblers zweite Frau. «Als Maître de Cabine bei der Swissair lernte ich früher manch flotten Mann kennen. Doch keiner war so ein Gentleman und so sportlich wie Ferdy.» Das Paar traf sich vor 40 Jahren, geheiratet haben sie aber erst 1994. Ferdy drückt seiner Liebsten einen Kuss auf die Wange. «Sie tut alles für mich. Ohne sie möchte ich nicht leben müssen.»
Dieser Tage sitzt Ferdy viel vor dem Fernseher und verfolgt die Tour de France! «Am besten gefallen mir die schweren Bergetappen.» Den Daumen drückt er «meinem Freund Fabian Cancellara». Bei Juniorenrennen habe der sich jeweils Tipps bei ihm geholt. Aber der Radsport bereitet Kübler heutzutage nicht nur Freude. «Das verdammte Doping! Das macht alles kaputt!»
Ferdy fuhr noch mit 65 Jahren die Pässe hoch. Doch mit 70 war dann ganz Schluss! Bei einer Ausfahrt wurde Küblers Velo von einem Auto touchiert, er stürzte, verletzte sich aber nicht. «Seit diesem Tag bin ich nie mehr auf einem Velo gesessen.» Aber er bleibt ein Velo-Held und hat immer noch viele Fans. Täglich liegt Post aus der ganzen Welt im Briefkasten. Kübler antwortet sofort, mit Gruss und Unterschrift. Er mache das gerne, sagt Kübler. «Der Herrgott hat mir so viel gegeben: Talent, Gesundheit, Glück.» Stets setzte er sich für Menschen auf der Schattenseite ein, spendete Zehntausende von Franken für Blinde. «Du musst freundlich sein zu jedem Menschen, du musst geben. Wer nicht gibt, kann nicht in Ehren nehmen.»