Heirassa! Gut gelaunt sitzt Alfons Spirig an seinem Stubentisch in Ennetbürgen NW und blättert im Fotoband «Woodstock. Chronik eines legendären Festivals». Am Radio läuft Ländlermusik: Der 72-Jährige hört Eviva, den Volksmusiksender, den er 2002 übernommen hat und noch heute besitzt. «Hier, schaut!», sagt er und zeigt auf ein Luftbild mit den über 400 000 Woodstock-Besuchern. «Einer davon bin ich!» Auf dem ganzen Gelände habe es nach Marihuana gerochen. «Ich fühlte mich high, ohne das Zeugs zu rauchen.» Drei Tage Love, Peace and Happiness. «Doch ich hatte auch Schiss.»
Liebe steht am Beginn dieser Geschichte. Frühjahr 1969: «Call me Fonsi», sagt Alfons Spirig, als er in einem Restaurant beim Löwendenkmal Luzern die Amerikanerin Kate kennenlernt. Der gebürtige Schwyzer ist 22 und Informatiker beim Lifthersteller Schindler, das 19-jährige Amigirl mit Highschool-Gschpänli auf Europa-Trip. Die beiden verlieben sich, nach Kates Abreise gehen heisse Liebesbriefe über den Atlantik. Anfang August fliegt Alfons mit der Billig-Airline Loftleidir Icelandic von Luxemburg nach New York. Das Retourticket kostet ihn 650 Franken, die Hälfte seines Monatslohns.
Mit einem Chevy, einem eleganten Ami-Schlitten, holt Kate ihn am Flughafen ab. Sie fragt, ob er Lust habe auf ein Musikfestival. Wer spiele, will er wissen. «Janis Joplin, The Who, Jimi Hendrix!» Die Namen sagen dem Schweizer nichts, doch er nickt. Und so fahren die zwei mit einem Kollegenpärchen nach Bethel, ein Kaff nordwestlich von New York. Jeder hat ein 3-Tages-Ticket für 18 Dollar und eine Wolldecke im Gepäck. Schon 27 Kilometer vor dem Ort staut sich der Verkehr, die Veranstalter haben mit 20 000 Besuchern gerechnet. «Lasst uns umkehren!», rät Spirig. Kate denkt nicht daran.
Grosse Augen habe er gemacht, als er auf dem Gelände gestanden sei, erzählt Spirig weiter. So viele Menschen auf einem Haufen hat der Innerschweizer noch nie gesehen. Überall langhaarige Hippies, bunt bemalte VW- und Schulbusse, Transparente mit «Make love, not war». Richie Havens singt «Freedom». Die jungen Besucher sind da, um gegen den Vietnamkrieg und die Rassendiskriminierung zu protestieren. «Ich war apolitisch.»
Spirig spürt schnell: Hier geht eine riesige Party ab! Alle sind happy, eine grosse Gemeinschaft, überall LSD, Hasch und Marihuana. Immer wieder bekommt er Joints angeboten – doch der Langstreckenläufer des BTV Luzern lehnt ab. «Die anderen lachten.»
Es herrschen chaotische Zustände. Lebensmittel und Getränke sind schon am ersten Tag ausverkauft, die Nationalgarde bringt Toast, Obst und Cola, die Besucher behelfen sich untereinander. Die wenigen WC-Kabinen sind rasch verstopft, viele Besucher verrichten ihre Notdurft auf der Wiese, «es gruuste mich». Die Armee fliegt Ärzte ein – aus Helikoptern desselben Typs haben US-Soldaten damals Vietnamesen erschossen. «Ich bekam Angst. Doch es blieb völlig friedlich.» Fonsi und Kate schlafen unter freiem Himmel, zur Katzenwäsche gehts ans Seeli, in dem viele füdliblutt baden.
Joan Baez, Santana, Janis Joplin: Das sind die Konzerte, die Spirig besonders begeistern. Nach Joe Cockers Auftritt mit «With a Little Help from my Friends» regnet es sintflutartig, alles versinkt im Schlamm. «Wir standen unter Bäumen zusammen wie Rindli auf der Alp.» Nach drei Tagen bummeln Fonsi und Kate zum Auto, erschöpft und glücklich. Doch die ersten Nächte danach hat er Albträume, sieht nur Menschen und Dreck.
Zwei Wochen nach dem Festival ist Alfons wieder daheim. In den hiesigen Zeitungen ist Woodstock kaum ein Thema, die Kollegen wollen nur wissen, wie es mit Kate lief. Erst ein Jahr später, als der Dokumentarfilm und die Dreifach-LP mit dem Soundtrack erscheinen, realisiert er: Ich war Teil eines historischen Ereignisses. «Eindrückliche Momente habe ich erlebt, tolle Konzerte.» Seit Woodstock liebt Spirig Musik von Singer-Songwritern. Sechs Konzerte von Bob Dylan hat er besucht.
Spirig hat sich auf seine Terrasse gesetzt. Er studiert das Lexikon der Schweizer Volksmusikanten. Obwohl er die Sendung «Ländlerzmorge» auf Radio Eviva nicht mehr moderiert, bleibt das Buch für ihn ein wichtiger Begleiter. «Mein Herz schlägt auch für die Volksmusik. Damit bin ich aufgewachsen.» Spirig ist Besitzer und Präsident von Radio Eviva, Radio Sunshine und Radio Central. Und moderiert dort seit 22 Jahren das Schwingfest. Er freut sich aufs Eidgenössische in Zug. «Das wird wie Woodstock: ein riesiges Fest, einfach mit anderem Publikum und Hintergrund.»
Und Kate? Der würde das bestimmt gefallen! Alfons lacht. «1970 verloren wir uns aus den Augen.» Vielleicht auch, weil Kate in Woodstock nicht schwanger wurde. Trotz Love, Peace and Happiness.