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  4. Kater, Alkohol, Übermass: Ein gesunder Exzess ist gesund
Hass im Ärmel

Wann sind wir eigentlich so langweilig geworden?

Früher hat die Autorin regelmässig mit Weinflaschen in der Hand auf Küchenstühlen getanzt und um fünf Uhr morgens selig tiefgekühlte Pizzaburger gegessen. Heute wollen sich alle schon um neun zum Brunch treffen und haben panische Angst vor «puffy Eyes». Haben wir den gepflegten Exzess verlernt? Macht uns vielleicht genau das so rastlos?

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Wenn der Kater unangenehm ist, heisst das meist, dass die Party gut war.

Getty Images/Johner RF
Linda
Linda Leitner

Ich mag Eskalation. Wenn ich die Zigarette im Takt eines Hits so richtig enthemmt über dem Kopf schwinge und dabei taumelnd, also ... tanzend, an einen glücklich-überhitzten Mitmenschen schlingere, dann bin ich glücklich. Dann fühle ich mich wild und lebendig und sehr gut. Am nächsten Tag sieht die Sache unter Umständen anders aus. Dann habe ich oft Kopfschmerzen und essen fällt mir schwer. Ich jammere dann viel. Meine Mutter sagt aber gerne: «Wenns lustig war, lohnt sich der Kater doch.» Und weil Mama als Stimme der Vernunft immer recht hat, ist da was dran. Besonders, weil sie mit Papa – beide Ü60 – in ihrer Rentner-Gang auch gerne mal spontan sämtliche Schnapsvorräte tilgen («Was weg muss, muss weg»), in die Exzess-Falle stolpern und die Sache zur All-Time-Knallerstory machen.

Mit Anfang Zwanzig habe ich mit meiner besten Freundin eine Facebook-Gruppe namens «Masslosigkeit – Übertreiben als Lebenseinstellung» gegründet. Würde ich die heute in die Runde schicken und Leute anwerben wollen, würde man mich vermutlich für hochgradig asozial halten. Gerade eben haben noch alle im Dry January geschwelgt, da ist so eine Ballermann-Mentaliät natürlich 'ne Ansage. Dabei ist mein «Lieber zu viel als zu wenig» nicht nur auf Alkohol, sondern auch auf Nahrung, die mich seufzen lässt, die Dauer meiner geliebten Duschgänge und flammende Gefühlsregungen bezogen. Kurz: auf Genuss. Und der wird heutzutage schon fast manisch unterdrückt. 

Insta-Selfcare als Exorzismus jeden Glücks

Kein Fleisch, kein Fisch, keine Milchprodukte. Keine Kohlenhydrate, keine Gluten, kein Zucker, kein Essen nach 18 Uhr. Kein Nikotin, kein Alkohol, viel Schlaf. Viel Wasser, viel Gemüse, viel Gedämpftes. Klingt nach Spass. Straffe Askese ist das, was mal die legendäre Home Party war. Ein nie endender Höhepunkt der Selbstgeisselung.
Wer Bock hat, mal wieder so richtig mit Hackfleisch zu eskalieren, oder es gar wagt, zuzugeben, sich nach zu vielen Shots übergeben zu haben, der bekommt es schon fast mit der Angst zu tun. Vor denen, die morgens um sechs meditieren, auf Instagram den veganen Käse loben und abends lieber im Hallenbad Bahnen als um die Häuser ziehen. 

Instagram fordert schliesslich ein einwandfreies Leben. Mit dem makellosen, gut ausgeruhten Körper, einer strahlenden Haut und einer Körperhaltung, die eines Gurus würdig ist. Perfekt inszeniert liegt der Gua-Sha-Stein neben dem Räucherbündel auf dem mamornen Waschbecken – wer von der durchtanzten Nacht so verquollen ist, dass selbst der teuerste Rosenquarz zur Lymphdrainage nix mehr hilft, der bleibt lieber im Dunkeln liegen. Den will keiner sehen. Ist ja auch peinlich, wie der/die sich gehen lässt.

Hinfort mit der Sünde!

Sich auf dem Weg zum Optimalwesen im Griff zu haben, gehört zum guten Ton. Loslassen kann man ja dann in der Atemtherapie oder beim Yoga. Es gilt, an sich zu arbeiten – ständig und ohne Stillstand. Ergo: Das rosa Self-Care-Level misst sich am Grad der vermeintlich sanften Leistung. Optimal zu sein, baut Druck auf. Das ist Stress, das macht rastlos. Auch die Erholungsphasen müssen geplant und möglichst bewusst sein. Das Bewusstsein so sehr zu erzwingen, tut fast schon weh.

Ich persönlich habe da lieber mal Kopfweh. So ein Sonntag samt Übelkeit, Fahne und einem nie endenden Hunger kann unangenehm sein, beschwingt einen aber eben auch. Ich weiss dann einerseits, dass ich noch nicht komplett eingerostet bin, aber auch, dass ich mich in Zukunft wieder zusammenreissen und gesünder leben muss. So ein bisschen Ekstase macht flexibel.

«In einer Gesellschaft, die mehr denn je von einem Perfektions- und Selbstoptimierungswahn geprägt ist, was durch die Sozialen Medien noch verstärkt wird, ist es sogar gesund, ab und zu mal alle Konventionen über den Haufen zu werfen und ordentlich auf den Putz zu hauen»,

so die Psychologin Sandra Jankowski gegenüber des deutschen Magazins Emotion. Na also. Gesund sogar! Friedensengel Jankowski flötet weiter: «Es kommt nicht darauf an, alles zu vermeiden, was anstrengend, ungesund oder verrückt ist, sondern darauf, ein gutes Gleichgewicht zu erreichen.»
Na also! Um die goldene Mitte geht es mal wieder. Aber dazu muss man ab und zu mal so richtig auftrumpfen. In beiden Extremen, wenn man mag. Wer also meiner Facebook-Gruppe aus dem Jahre 2008 noch beitreten möchte, darf das gerne. Mich auf Wein, Zigaretten und schmissige Hits in seine Küche einladen auch. Ich bleibe dann einfach ein Weilchen.


 

Von Linda Leitner am 7. Februar 2020 - 17:09 Uhr