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Generationenforscher François Höpflinger

«Wir Schweizer jammern, ohne zu leiden»

Die Hälfte der Schweizer Familien kommt nur knapp über die Runden. Diese Nach­richt sorgte für Aufruhr. Generationen­forscher François Höpflinger erklärt, was heute alles besser ist – und was schlechter – als früher.

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Francois Höpflinger, Generationenforscher, zu Hause in Horgen ZH, mit den Gemälden von Grossmutter und Grossvater, 20. März 2024

François Höpflinger zu Hause in Horgen ZH mit Gemälden seiner Grosseltern auf dem Schoss. Die Dame an der Wand ist «eine Unbekannte, die uns gefällt».

Fabienne Bühler

Das Thema seiner Forschung hängt an den Wänden. François Höpflinger (75) lebt in Horgen ZH, umgeben von Ahnengemälden. Über manche hat er wenig Vorteilhaftes herausgefunden. «Ein Vorfahre meiner Frau war im 17. Jahrhundert Hexenjäger», erzählt Höpflinger schmunzelnd. Überhaupt sei unser Blick auf die Vergangenheit oft verklärt, sagt der Generationenforscher. Und räumt im Gespräch die häufigsten Irrtümer der Gegenwart aus dem Weg.

François Höpflinger, laut dem neuen Barometer von Pro Familia hat die Hälfte der Schweizer Familien finanzielle Schwierigkeiten. Geht es uns wirklich so schlecht?
François Höpflinger: Ich denke nicht, nein. Die Befragung legt diesen Schluss deshalb nahe, weil sie mehrere Mängel hat: Es ist eine Onlinebefragung, manche Fragen sind suggestiv gestellt, und zur Einschätzung der finanziellen Situation wurden nur drei Kategorien angeboten. Haben Menschen drei Abstufungen zur Wahl, wählen sie oft die Mitte.

Also alles halb so wild?
Bei der Schweizerischen Gesundheitsbefragung 2022 gaben 26 Prozent der Personen mit minderjährigen Kindern an, in einer eher schwierigen bis sehr schwierigen finanziellen Situation zu sein. Armutsgefährdet sind etwa 15 bis 16 Prozent der Gesamtbevölkerung. Das hat sich seit 2007 nicht gross verändert.

Aber die Belastung durch Miete und Krankenkassenprämien ist im Moment doch unbestritten hoch.
Das ist tatsächlich ein Unterschied zu früher. Die Zwangsausgaben sind gestiegen, aber das Lohnniveau bisher nicht in gleichem Mass. Besonders armutsgefährdet sind Alleinerziehende und Paare mit drei oder mehr Kindern.

Meine Grossmutter musste mit 14 ausziehen, um zu arbeiten. Da frage ich mich schon, ob wir heute nicht einfach auf hohem Niveau jammern?
Ja. Wir jammern, ohne zu leiden. Die Mehrheit in der Schweiz hat heute einen relativ hohen Wohlstand. Wir haben eine starke Zivilgesellschaft, eine hohe Wohnqualität, eine gute Wirtschaft, und meist verdienen sowohl der Mann als auch die Frau in einer Familie. Das verringert das Risiko, dass plötzlich – wie früher – das gesamte Einkommen wegfällt. Wir haben wenige Kinder, das macht es auch einfacher.

Francois Höpflinger, Generationenforscher, zu Hause in Horgen ZH, 20. März 2024

Fasziniert vom Blick in die Vergangenheit: François Höpflinger stösst bei seiner Forschung immer wieder auf Überraschendes.

Fabienne Bühler

Ist es denn nicht gerade andersrum? Man liest doch jetzt häufig, dass Eltern sich aus finanziellen Gründen gegen mehr Kinder entscheiden.
In Einzelfällen mag das stimmen. Doch im Grunde wünschen sich die meisten Schweizer nicht mehr als drei Kinder – unabhängig von den Finanzen. Seit den 60er-Jahren liegt die ideale und gewünschte Anzahl Kinder bei zwei bis drei. Das hat sich seither nicht geändert. Die finanzielle Situation spielt aber schon eine Rolle.

Was meinen Sie?
Reiche haben weltweit weniger Kinder als Arme. Je reicher ein Land ist und je besser ausgebildet die Frauen sind, desto tiefer ist die Geburtenrate. Kinderreichtum ist eigentlich ein Armutszeichen.

Meine Urgrossmutter war noch eins von 13 Kindern.
Damit war sie schon damals eine Ausnahme. Kam sie aus einem katholischen Gebiet?

Kanton Freiburg.
Ja, normal war das sogar zu der Zeit nicht. Früher konnten die Frauen auch gar nicht immer so viele Kinder bekommen – sie sind schlicht vorher gestorben. Im 17. Jahrhundert gab es schon Bemühungen, die Geburtenrate zu senken. Indem man die jungen Frauen ins Kloster schickte oder ihr Mindestalter für die Heirat auf 25 erhöhte. Die Schweizer haben immer relativ wenig Kinder gehabt. Die Vorstellung von den Unmengen Kindern, die es früher gab, ist eine Illusion.

Das ist François Höpflinger

Der emeritierte Soziologieprofessor der Universität Zürich erforscht seit Jahrzehnten die Themen Alter und Generationen. Er hält Vorträge und berät Regierungen und Stiftungen. François Höpflinger hat mit seiner Frau Christina zwei Kinder und vier Enkelkinder.

Gibt es etwas, das früher wirklich einfacher war für Familien?
Die 50er- und 60er-Jahre waren die goldenen Jahre der bürgerlichen Ehe.

Der Mann verdiente, die Frau blieb zu Hause.
Ja, das hat niemand infrage gestellt. Damals ist die Frauenerwerbsquote sogar gesunken, weil die Schweiz sich das leisten konnte. Das Frauenstimmrecht gab es noch nicht.

Und das war besser?
Von uns aus gesehen nicht. Aber damals gab es einen sehr hohen Konsens. Das führte zu hoher subjektiver Zufriedenheit. Es gab keinen anstrengenden Diskurs, die Menschen fühlten sich geborgen in dieser kleinbürgerlichen Welt. Sie erlebten sozialen Aufstieg, und den eigenen Kindern ging es dann sogar noch besser als ihnen selbst.

Das waren die Babyboomer, die aber gegen die bürgerliche Welt rebellierten.
Bis sie selbst bürgerlich wurden (lacht). Heute geht es den Babyboomern gut. Nur 24 Prozent der Schweizer Rentnerinnen und Rentner sagen, dass sie finanzielle Schwierigkeiten haben.

Warum wurde die Abstimmung zur 13. AHV-Rente dann angenommen?
Weil die Älteren dachten: Das Geld schadet nicht, auch wenn wir es nicht unbedingt brauchen.

Heisst das, den Alten geht es von allen am besten?
Ja, Personen zwischen 65 und 74 haben die höchste Lebenszufriedenheit.

Gerade bei dieser Generation ist aber oft die Rede von Einsamkeit und Vereinzelung. Wären wir in Mehrgenerationenhäusern glücklicher?
Nein, das ist eine völlige Romantisierung und entsprach schon früher nicht der Realität.

Früher hat man doch öfter mit Verwandten zusammengelebt als heute?
Ja, aber man hat die Alten auch damals schon oft in die Bürger- und Pfrundhäuser ausgelagert, also in Altersheime. Oder man hat sie ins Stöckli abgeschoben. Heute gehen viele freiwillig ins Altersheim. Eine Frau hat mir mal gesagt:
Dort kann ich besser motzen, als wenn meine Kinder mich pflegen würden (lacht).

Generationen-Fakten

2 Geburten
pro Frau. So tief war die Kinderzahl der Schweizer schon zwischen 1932 und 1940. 2022 lag die Geburtenrate bei 1,39 Kindern pro Frau.

4,9 Personen
lebten 1850 im Schnitt in einem Haushalt zusammen. 2020 waren es noch 2,2 Personen pro Haushalt.

2–3 Kinder
wünschte sich die Mehrheit der Zürcher Arbeiter 1960 («Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik»). Nur fünf Prozent der Befragten fanden vier oder mehr Kinder idea

Und wem geht es heute am schlechtesten?
Den Teenies und den bis 24-Jährigen.

Warum?
Ihre psychische Belastung ist am grössten. 20 Prozent von ihnen sind digital überfordert und haben einen problematischen Umgang mit dem Internet. Und sie sind am stärksten von der Coronakrise betroffen.

Was ist mit den Kindern: Geht es wenigstens denen besser als früher?
Die meisten Kinder sagen, dass sie ziemlich glücklich sind. Sie haben mehr Macht und bessere Familienbeziehungen, dafür weniger Freiraum.

Wie meinen Sie das?
Die Kindheit wird verhäuslicht. Mittlerweile gibt es ja mehr frei laufende Füchse als frei laufende Kinder. Man hat mehr Angst um sie. Früher gehörte der mögliche Tod eines Kindes dazu.

Zurück zu den Erwachsenen: Was ist stressiger – heute im Büro zu arbeiten oder 1930 als Bauer auf dem Feld?
Der Bauer hatte eine körperlich belastende Arbeit, aber keinen Stress. Beim Stressniveau spielt eine Rolle, wie hoch das Arbeitstempo ist, wie überfordert man ist, wie viel Anerkennung man erhält und wie klar die Erwartungen sind.

Das Getreide vor dem Regen reinzuholen, ist kein Stress?
Kurzzeitig schon, aber dann hat man im Winter eine ruhige Phase. Heute ist unsere Arbeitswelt entgrenzt. Man nimmt die Arbeit nach Hause, ist ständig erreichbar und muss mit viel mehr Menschen klarkommen als früher. In den letzten zehn Jahren hat sich unser Arbeitsstress erhöht.

Wie könnte man dem entgegenwirken?
Mit Sabbaticals. Eine längere Auszeit alle fünf bis sechs Jahre würde Perspektivenwechsel erlauben und die Kreativität und Motivation bei der Arbeit steigern. Schliesslich werden wir in Zukunft auch alle länger arbeiten müssen. Doch die Politik hinkt der neuen Langlebigkeit hinterher.

Konnte sich der Bauer 1930 nach einem Leben voll harter Arbeit zur Ruhe setzen?
Nein, die meisten Leute arbeiteten, bis sie nicht mehr konnten. Sonst wäre die Gefahr, in die Armut abzurutschen, zu gross gewesen. Eine AHV so wie heute gab es noch nicht.

Sie haben vorhin von den goldenen Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg gesprochen. Wird es so eine ruhige Zeit voller Konsens in unserer Gesellschaft noch mal geben?
Nein. Die neue Diversität wird bleiben. Wir müssen lernen, mit ihr umzugehen.

Wäre es nicht schön, wenn es wieder so wäre, wie es mal war?
Nein. Wir hatten im 19. Jahrhundert in der Schweiz lange Zeit de facto ein Einparteiensystem. Und die Frauen hatten kein Mitspracherecht. Was die Familien angeht, haben wir ein verzerrtes Bild der Vergangenheit. Heute sind die Beziehungen zwischen Erwachsenen, Kindern und Eltern besser denn je, und die Generationen haben ein ziemlich entspanntes Verhältnis miteinander. Da lobe ich mir unsere neue Welt – mit all ihren Herausforderungen.

LS
Lynn ScheurerMehr erfahren
Von Lynn Scheurer am 1. April 2024 - 06:00 Uhr