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Notabene Peter Bichsel

Am Ende des Jahres zweitausendundvierzehn

Peter Bichsel, 79, Schriftsteller und Publizist, erklärt, warum dies seine letzte Kolumne für die «Schweizer Illustrierte» ist.

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Peter Bichsel Autor
Kurt Reichenbach

Als kleines Kind hatte ich meine Mutter im Verdacht, dass sie mir etwas verschwieg, weil es zu den Geheimnissen der Erwachsenen gehört, und ich suchte nach dem Grund des Tabus. Meine Frage war: «Wie lange dauert es, bis wieder 1941 ist?» Und die Antwort, dass nie mehr 1941 sein wird, glaubte ich nicht. Es ist ja auch immer wieder Dienstag, es ist auch, und das dauert selbstverständlich länger als beim Dienstag, immer wieder Dezember. Vielleicht dauert es Tausende von Jahren, stellte ich mir vor, bis wieder 1941 ist - aber irgendeinmal muss es doch wieder sein.

Wie mein Karussell, das sich dreht, und Rilkes weisser Elefant, der immer wiederkommt und immer wieder geht und wiederkommt und wieder geht.

Ich kann ihm stundenlang zuschauen. Es ist so etwas wie eine Geschichte, die auch immer wiederkommt und immer wieder geht, und immer wieder die gleiche ist. Das wunderbare Gedicht von Christian Morgenstern:

«Ich gehe tausend Jahre
um einen kleinen Teich
und jedes meiner Haare
bleibt sich im Wesen gleich.

Im Wesen wie im Guten
das ist doch alles eins
so mag uns Gott behuten
in dieser Welt des Scheins.»

Die Ewigkeit jedenfalls stelle ich mir rund vor. Weihnachten, Neujahr - die Familie trifft sich, die Belegschaft trifft sich, jene, die sich immer treffen, treffen sich. Jetzt wird erzählt. Einer erzählt von der Parkbusse, die er, selbstverständlich ungerechtfertigt, bekommen hat, und er erzählt es noch einmal und noch einmal. Und ich weiss, dass nun am Tisch für längere Zeit, für eine Ewigkeit, von Parkbussen und von Polizisten erzählt wird, und ich langweile mich zum Voraus, sitze da und höre zu, und höre plötzlich von ferne die Drehorgel meines Karussells. Der Inhalt der Parkbussengeschichten interessiert mich nicht, aber dass sie sich im Kreis herumdrehen, kommen und gehen und sich in den Schwanz beissen, das beginnt mir zu gefallen.

Erzählen ist letztlich das Aufbäumen gegen jenes Ende, das uns allen sicher ist.

Bitte noch einmal, sagt das Kind, wenn man ihm eine Geschichte erzählt hat, und dann noch einmal. Geschichten erzählen hat mit dem Ende zu tun. Solange wir erzählen, bleibt alles rund, bleibt alles Wiederholung, das Runde hat kein Ende. Erzählen ist letztlich das Aufbäumen gegen jenes Ende, das uns allen sicher ist. Und sich verabschieden ist der Entscheid, die Runde, das Runde zu verlassen und geradeaus zu gehen, geradeaus nach Hause, geradeaus nach Amerika.

Ja, meine Mutter hat mir damals nichts verschwiegen. Sie hatte recht, 1941 kommt nie mehr, 2014 kommt nie mehr. Das weiss ich inzwischen, aber ich verstehe das damalige Kind, das sich im Kopf dagegen wehrte, ein kleiner Zweifel ist mir geblieben.

Ein Freund von mir hat lange Zeit bei einem Haussa-Stamm in der Sahara verbracht. Er gehört zu jenen eigenartigen Menschen, die man als Sprachgenies bezeichnet; später als Rotkreuzhelfer in Vietnam hat er innert kurzer Zeit mehrere vietnamesische Dialekte beherrscht. Bei den Haussa musste er nach einem Jahr aufgeben. Er kehrte zurück nach Deutschland, um die Sprache der Haussa an einer Universität zu lernen. Dann ging er mit der hier gelernten Sprache zurück zu seinem Stamm.

Die Haussa, sagte er, erzählen nur Geschichten. Sie sprechen nicht, sie bezeichnen die Dinge des Alltags kaum, sie reden fast nichts während der Arbeit. Reden, plaudern, sich selbst darstellen, klagen: Das gilt als unmännlich, als untapfer. «Verrückt sein» heisst in Haussa: «Er spricht mit seinem Kamel.» Abends haben die Ältesten Geschichten erzählt, um sich selbst und die anderen am Reden zu hindern. Geschichten erzählen, um zu schweigen. Immer wieder dieselben Geschichten.

So kommt es mir vor, wenn ich in den unzähligen Kolumnen, die ich geschrieben habe, herumblättere - immer wieder dieselbe Geschichte, sich im Kreis herum bewegen, das Karussell.

Liebe Leserinnen, liebe Leser, ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie mir zugehört haben, dass Sie mit mir geschwiegen haben. Das war mir nie selbstverständlich. Jetzt verabschiede ich mich und versuche, geradeaus zu gehen.

Von Peter Bichsel am 30. Dezember 2014 - 10:24 Uhr, aktualisiert 20. Januar 2019 - 16:37 Uhr