Am Samstag Abend, 16. April, um 22.30 Uhr, stieg Steck in die extrem steile, 2000 Meter hohe Wand ein. Ohne Sauerstoffflaschen, ohne Fixseile und solo (sein Kletterpartner Don Bowie fühlte sich zu wenig gut akklimatisiert). Nach unglaublichen zehneinhalb Stunden stand Steck auf dem Gipfel. In einer SMS schreibt er: «Es war genial, alles hat sich perfekt ergeben.» Ein Gipfelfoto konnte Steck nicht machen, «meine Kamera ist eingefroren». Damit hat der 34-Jährige bewiesen, dass er seinen an der Eigernordwand erprobten Speed-Stil auch an Achttausendern erfolgreich umsetzen kann.
Und jetzt? Pause, ausruhen? Von wegen: Steck hat schon den nächsten Himalaja-Brocken im Visier: Jetzt wagt er sich an die Nordseite des 8201 Meter mächtigen Cho Oyu.
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Extrem. Er mag das Wort nicht. Wenn die Leute vor etwas Angst haben, sagt Ueli Steck, nennen sie es extrem. Darum bezeichnet er sich selber auch nicht als Extrembergsteiger. «Denn was ich tue, ist für mich nicht extrem, sondern selbstverständlich, ich erreiche einfach nur ein Ziel, mit dem ich mich sehr lange, sehr intensiv auseinandergesetzt habe.»
Also beisst man sich auf die Lippen, vermeidet das Wort «extrem», wenn man ihm jetzt zuschaut, wie er joggt, Bergläufe macht, locker, scheinbar mühelos, im Khumbu-Tal im Himalaja, nahe dem Mount Everest, in über 5000 Metern Höhe. Neuankömmlingen rasselt hier oben der Atem, nach fünf Schritten wird es einem schwindlig, nach zehn fleht man um eine Pause – doch Steck joggt, zwei Stunden lang. Der Mann lächelt verlegen, meint gar, sich für seine Extrem-, sorry, Topform entschuldigen zu müssen: Er sei halt schon einen Monat hier oben. «Da bewegt man sich so locker wie daheim.» Zwischen seinen Bergläufen besteigt er zwei Sechstausender, entspannt sich beim Eisklettern und übernachtet auf 6000 Metern Höhe in seinem Zelt. Steck nennt das «die perfekte Akklimatisierung». Er ist fit, er ist motiviert, er ist bereit. Für die Südwand des Shisha Pangma.
Ueli Steck, 34 Jahre alt, gelernter Zimmermann, Profibergsteiger, wohnhaft in Ringgenberg bei Interlaken BE, sagt, er sei ein sehr ängstlicher Mensch. «Ich kehre am Berg früher um als manch anderer.» Und doch tut Steck Dinge, die ihn zu einem der besten Alpinisten der Welt adeln. Ziemlich hohe und schnelle Dinge. Mitunter gefährliche. An vier Achttausendern war er und hat die drei grossen Alpen-Nordwände in Rekordzeit, solo und ungesichert durchstiegen. Das Matterhorn in 1 Stunde 56 Minuten, die Grandes Jorasses in 2 Stunden 21 Minuten und die Eigernordwand in 2 Stunden 47 Minuten. Besser und schneller, sagt Steck, könne er diese Nordwände nicht klettern. Also hat er dieses Kapitel abgeschlossen. «Man muss wissen, wann es genug ist.» Doch einer wie Steck mag nicht ruhen, will weitermachen, Neues erleben. «Sobald ich stehen bleibe», sagt er, «bin ich wie gestorben.» Darum hat er alles, was er in seinem Bergsteigerleben erfahren und gelernt hat, zusammengefasst und verdichtet – das Beste von Steck sozusagen: Technik und Schnelligkeit seiner Speedbegehungen, kombiniert mit der Höhenerfahrung seiner Achttausender-Expeditionen, garniert mit seiner Nervenstärke. Denn Steck geht – im besten Sinne – mit dem Kopf durch die Wand. Diesmal hat er sich eine besonders schwierige ausgesucht. Eine noch nie begangene Route in der steilen Südwand des 8013 Meter hohen Shisha Pangma im Himalaja. Hochrisikozone.
Steck ist froh, wieder frei zu sein, seine Ruhe zu haben. Die letzten Monate waren hektisch und verplant. Mit seiner Live-Multivisionsshow «Speed» ging er auf Schweizer Tournee, füllte Abend für Abend die Hallen, zeigte Fotos und Filme seiner Geschwindigkeitskletterei, moderierte, referierte, und das, wie er sagt, mit unerwartet viel Spass. Eine Freude wars, den schmächtigen, drahtigen Mann mit dem Lausbubengesicht und den eispickelkrummen Beinen auf der Bühne zu erleben. Nebst der «Speed»-Show trainierte er täglich für sein Himalaja-Projekt, rannte auf den Niesen, 1600 Höhenmeter, und das dreimal hintereinander. Pausen erlaubte er sich bloss, wenn er mit der Standseilbahn fuhr – natürlich nur hinunter, talwärts, zum Jogging-Neustart.
Ende Februar reiste Ueli Steck mit seiner Frau Nicole ins Khumbu-Tal am Everest. 14 Tage Trekking gönnte sich das Ehepaar. Wo andere Strapazen oder gar Gefahr sehen, finden die Stecks ihr Glück. Ueli schenkte seiner Frau früher zum Geburtstag schon mal eine «romantische Nacht in der Eigernordwand – im Todesbiwak». Und 2009 verbringt das Paar seine Flitterwochen am 8034 Meter hohen Gasherbrum II, wo Ueli als einzigem Alpinisten in jenem Jahr der Gipfelerfolg gelingt (Funkspruch zu Nicole: «I bi dobe!»). Es sei für seine Frau nicht immer einfach, mit seinen riskanten Bergprojekten umzugehen, sagt Ueli. Aber sie hätten ein System gefunden, das für beide funktioniert. Nämlich? «Das zu erklären», meint Ueli und lächelt, «ist zu kompliziert.»
Die Angst, das Risiko, der Tod am Berg. Steck spricht offen von den «Urängsten, den Existenzängsten auf Achttausendern». Es gibt immer ein Restrisiko, sagt er. Das könne er akzeptieren, dies mache sein Leben lebenswert. Er hält es für falsch, alles im Leben immer noch besser absichern und versichern zu wollen. Klar, auch ihm könne etwas passieren, es gebe keine Garantie. Oder wie er es poetisch ausdrückt: «Irgendwann fehlt man beim Znacht.»
Ueli Steck hat enorm viel Wissen und Können und setzt dieses konsequent ein, er verlässt sich nur auf seine Hände und Füsse – und seinen Kopf, der so stark ist wie bei kaum einem anderen Alpinisten. Keiner kann so total auf das Hier und Jetzt fokussieren wie Ueli.
Im Büro in seinem Haus, ein altes, knorriges Holzhäuschen im Dorfzentrum von Ringgenberg, stapelt sich ein paar Wochen vor der Abreise in den Himalaja die Expeditionsausrüstung. Alles wird in blaue 60-Liter-Plastikfässer verpackt. Besonders stolz ist Ueli auf seine massgeschneiderten Kleider. Ein orangefarbenes Daunenkombi wiegt federleichte 1650 Gramm, der Schlafsack, in hässlichem Rotzgrün zwar, gibt mollig warm und scheint mit 700 Gramm schwerelos. Auch Bücher nimmt er mit, darunter einen Asterix-Comic und einen Stieg-Larsson-Krimi. Dann das Essen: Hunderte von Getreide-Riegeln in schriller Verpackung, die «High» und «Energy» und «Power» versprechen. Aber auch Heimatkäse von der Wengeneralp packt Ueli ein und einen grossen Mocken Trockenfleisch. Überall Dosen, Säcke, Pakete und Flaschen. Am Shisha Pangma darf es zu keinen Verwechslungen kommen. Also beschriftet Ueli die Dinge. Auf eine milchige Plastikguttere hat er mit Filzstift «Pissbottle» gekritzelt.
Am 10. April 2011 hat Ueli Steck die Grenze nach China in Richtung Shisha Pangma passiert. Mit dabei ist Don Bowie, der 41-jährige Amerikaner war bereits ohne Sauerstoffflaschen auf dem K2, der als schwierigster aller vierzehn Achttausender gilt. Mit Bowie will sich Ueli an die neue Route in der Shisha-Pang-ma-Südwand wagen. Ohne zusätzlichen Sauerstoff, ohne Sherpas, ohne Fixseile. «Möglichst schnell rauf und möglichst schnell wieder runter», das ist Uelis Plan. In dieser Höhe kann sich der Körper nicht mehr erholen, nicht mal beim Schlafen, man wird immer müder, «brennt» aus, die Gefahr von Höhenkrankheit wird grösser, da hilft es enorm, wenn man sehr schnell wieder unten ist. Die an der Eigernordwand erfolgreich praktizierte Speedtechnik soll Steck jetzt also auch an einem Achttausender Erfolg bringen. Er braucht drei oder vier Tage stabiles Wetter, «dann kann ich hier neue Grenzen sprengen».
Am 15. April 2011 schreibt Ueli Steck in einem SMS: «Sind im Basecamp angekommen. Ab dem 22. April soll das Wetter besser werden, wärmer, weniger Wind. Der 27. sieht gut aus. Lieber Gruss Ueli».