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Skitourenunglück im Wallis

Der Tod am Berg

Als die Retter den Ort des Schreckens unter der Tête Blanche endlich erreichen, sind die Spuren vom vergeblichen Überlebenskampf schon fast verschwunden. Die Schweiz trauert um sechs Menschen, die in der Schneehölle zu Tode kamen.

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Unglück Wallis

Ski- und Fussspuren der Retter auf dem Gletscher unterhalb der Tête Blanche. Hier erfroren die sechs Tourengänger.

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Ein Gruppenfoto vom Samstagmorgen zeigt die sechs fröhlich lachend mit ihren geschulterten Ski. Bereit für die 30 Kilometer lange Tour von Zermatt nach Arolla im Wallis. Vier von ihnen haben sich für die Patrouille des Glaciers (PdG) angemeldet. Als Team «Moix Brothers» wollen sie eine der härtesten Skitouren der Welt bestreiten. Die heutige Tour ist Training dafür.

Das Wetter ist gut. Meteo Schweiz warnt zwar seit Donnerstag vor starkem Schneefall und heftigem Wind am Wochenende. Trotzdem scheint die Gruppe zu glauben, vor dem Wetterumschwung ans Ziel zu kommen.

Von Zermatt auf 1616 Metern führt die Route zum Ober Stafel hinauf. Nach einer kleinen Abfahrt montieren Tourenfahrer wieder die Steigfelle und starten den Aufstieg. Der höchste Punkt der Tour ist die Tête Blanche auf 3706 Metern. Das Matterhorn thront links des Weges wie eine Pyramide in die Höhe. Eine spektakuläre Tour, auch weil man, umgeben von den klassischen Viertausendern, den Gletscher hinaufsteigt.

Wallis Unglück

Die 30 hochalpinen Kilometer zwischen Zermatt und Arolla sind der schwierigste Teil der Patrouille des Glaciers.

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Eng verbunden

Der sportliche Ausflug an diesem Samstag ist eine richtige Familienangelegenheit. Drei Brüder, ein Cousin, ein Onkel und die Freundin eines Bruders sind mit von der Partie. Der älteste Bruder, Jean-Vincent, 30, arbeitet bei einer Bank und sitzt seit zwei Wochen im Gemeinderat von Vex VS. Der mittlere, David (27) bekam gerade sein Anwaltspatent überreicht und freut sich auf eine Weltreise. Der jüngste, Laurent (21) hat die Mittelschule abgeschlossen und ein Jurastudium in Fribourg angefangen. Mit dabei auch Cousin Marc (44). Der Hauptmann der Walliser Kantonspolizei ist ein erfahrener Patrouilleur. Onkel Joël (59) aus Evolène VS, ist Vater zweier Töchter. Die einzige Frau in der Gruppe ist Emilie (28). Die Freundin von David ist Juristin und kommt aus Fribourg.

Für den Aufstieg bis zum höchsten Punkt der Tête Blanche brauchen geübte Tourenfahrer vier bis fünf Stunden. Nach Arolla werden sechs bis sieben Stunden angegeben. Dort, am Zielort, wartet die Frau von Joël, um die Gruppe nach Hause zu fahren. Alles ist organisiert, alle freuen sich auf einen ganz normalen Samstag. Doch irgendetwas muss unglaublich schiefgelaufen sein.

Was man weiss: Auf der Strecke liegt viel Neuschnee, es kann sein, dass die Gruppe weniger schnell vorwärtskommt als geplant. Sicher ist: Zwischen Mittag und 14 Uhr kommt starker Föhn auf, mit Böen bis zu 100 Stundenkilometern. Der Himmel hat sich verdunkelt, es schneit. Die fünf Männer und die Frau tragen nur dünne Rennanzüge. Für schlechtes Wetter auf einer Höhe von über 3000 Metern sind sie nicht ausgerüstet.

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Das Matterhorn thront über dem Gletscher unterhalb der Tête Blanche. Bei schlechtem Wetter wird die Fläche zur weissen Hölle.

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Kampf ums Überleben

In Arolla wird die Ehefrau von Joël unruhig. Es ist schon 16 Uhr, und die Gruppe ist noch immer nicht da.

Um diese Zeit kämpfen die sechs Tourengänger auf der riesigen Eisfläche unterhalb der Tête Blanche um ihr Leben. Der Sturm tobt, der Schnee peitscht. Es fühlt sich an wie in einer eisigen Waschmaschine bei minus 18 Grad. Die Sicht ist gleich null, unmöglich zu sehen, was links, rechts, oben oder unten ist. Irgendwie gelingt es jemandem aus der Gruppe um 17.19 Uhr einen Notruf abzusetzen. Fredy-Michel Roten, Direktor der Kantonalen Walliser Rettungsorganisation: «Wir versuchen in solchen Fällen, den Kontakt aufrechtzuerhalten, aber bei dieser Witterung und dieser Kälte sind die Batterien der Mobiltelefone rasch leer.»

Der Notruf sollte das letzte Lebenszeichen der Gruppe sein.

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Basis der Rettungsorganisation. Elf Helis standen in Sion und Zermatt parat.

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Retter können nicht retten

Um 18.20 Uhr startet in Zermatt eine Rettungskolonne auf Ski, um 22 Uhr muss sie Forfait erklären, die Lawinengefahr ist zu gross. Helikopter können nicht fliegen, die Sicht ist zu schlecht. Auf 3000 Metern Höhe ist es inzwischen minus 30 Grad.

Die Retter sind zum Nichtstun verdammt. Um 5 Uhr am Sonntag- morgen können sie dank Telefondaten und GPS den ungefähren Standort der Vermissten lokalisieren. Elf Helikopter stehen in Sion und Zermatt bereit. Die Helfer warten auf ein Wetterfenster.

Anjan Truffer, Leiter des Rettungsdienstes von Zermatt, fotografiert auf der Air Zermatt-Basis am Mittwoch, den 13. März 2024. (© Gabriel Monnet)

«Man funktioniert einfach.» Anjan Truffer, Chef der Bergrettung Zermatt.

GABRIEL MONNET

Erst um 19.30 Uhr kann ein Helikopter endlich zwei Retter, einen Arzt und einen Polizisten auf dem Schneefeld in der Nähe der Dent-Blanche-Hütte absetzen. Sie landen in 40 Zentimeter Neuschnee und suchen intensiv nach der Gruppe. Um 21.28 Uhr die schreckliche Gewissheit: Die Retter stossen auf zwei Vermisste. In unmittelbarer Nähe – von Schnee bedeckt – zwei weitere leblose Körper. Die fünfte Person liegt rund 30 Meter weiter oberhalb. «In einer solchen Situation funktioniere ich einfach nur», sagt Rettungschef Anjan Truffer, der bei der Bergung dabei war. «Ob sie noch lebten, wusste ich in diesem Moment nicht. Die Personen wurden direkt ins Spital geflogen.»

Doch rasch wird klar: Jede Hilfe kommt zu spät.

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Schock und grosse Trauer in der Gemeinde Vex, von wo die fürchterlich getroffene Familie stammt.

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Familiendrama

Wie sagt man einer Mutter und einem Vater, dass ihre drei Söhne tot sind? Wie sagt man zwei Mädchen, dass ihr Vater gestorben ist? Wie sagt man einer Mutter, dass ihr einziger Sohn nie mehr zurückkommt?

Wie sagt man einer Familie, dass die Leiche ihrer Tochter noch auf dem Berg verschollen ist? Vielleicht in einer Gletscherspalte liegt, umgeben von Kälte, Eis und Schnee?

Im Dorf Vex, das auf einen Schlag vier Mitbürger verloren hat, stellen die Menschen am Sonntagabend Kerzen ins Fenster. Am Montagabend stehen 300 von ihnen vor der Kirche und trauern. Die drei Brüder sind Mitglieder des Echo des Glaciers. Die Blaskapelle des Dorfes sagt das bevorstehende Konzert ab und spielt bei der Mahnwache für die Verunglückten.

In Evolène, dem Wohnort von Onkel Joël, ist am Montag zufälligerweise Bischof Jean-Marie zu Besuch. Wieso Gott ein solches Unglück zulasse, wird er gefragt. Er kann keine Antwort geben.

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Mit Kerzen zeigen die Bewohnerinnen und Bewohner von Vex ihre Anteilnahme.

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Monique Ryser
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Silvana DegondaMehr erfahren
Von Monique Ryser und Silvana Degonda am 16. März 2024 - 06:00 Uhr