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Das grosse Interview mit Alain Berset

«In der ersten Jahreshälfte 2021 können wir impfen»

Die Pandemie fordert ihm alles ab: Gesundheitsminister Alain Berset ist im Dauereinsatz. Im Interview spricht er über sehr spezielle Feiertage, den harten Winter – und Lichtblicke im Frühling.

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Bundesrat Alain Berset, Covid-Sitzung, 2020

Unter Druck: Gesundheitsminister Alain Berset hetzt von Termin zu Termin. «Gemeinsinn ist besser als Zwangsmassnahmen.»

Kurt Reichenbach

Herr Bundesrat, wie geht es Ihnen?
Ich bin gesund, und ich fühle mich gut.

Sind Sie nicht gestresst von der ewigen Corona-Geschichte?
Doch. Das zerrt schon an den Nerven. Es beschäftigt mich tatsächlich seit Monaten und bestimmt meine Agenda.

Auch wir sind hin- und hergerissen: Einerseits gilt die Schweiz im Ausland als Corona-Hölle, andererseits geben die Impfstoff-Meldungen Hoffnung. Wo stehen wir?
Wir stehen an einem ganz wichtigen Punkt: Es ist wirklich so, dass wir alle ein wenig genug haben. Es zieht sich hin, wir sind mitten im Marathon. Meine grösste Sorge ist, dass die Menschen in diesem Land nachlassen mit der Selbstverantwortung, die bisher so gut funktioniert hat.

Bundesrat Alain Berset, Covid-Sitzung, 2020

«Lieber Herr Berset …» Kinder schreiben und zeichnen in der Corona-Krise Briefe an ihren Bundesrat.

Kurt Reichenbach

Können Sie das nicht verstehen? Meine älteren Kinder studieren beide. Sie finden es ungerecht, dass Unis nur noch Fernunterricht erteilen. Bezahlt unsere Jugend den Preis für den Kampf gegen Corona?
Klar verstehe ich den Frust. Aber es gibt keine Alternative zum Aufruf an den Gemeinsinn. Corona ist wirklich mehr als eine Grippe, kann schwere Verläufe haben. Es gibt über eine Million Menschen mit Vorerkrankungen, nicht nur Betagte, die wegen Covid-19 gefährdet sind. Wir müssen durchhalten. Ich appelliere an den Gemeinsinn aller. Wenn der Graben zwischen unseren Empfehlungen und der freiwilligen Umsetzung durch die Bevölkerung immer weiter auseinanderklafft, wird es schwierig. Massnahmen nützen nur, wenn sie umgesetzt werden. So einfach ist das.

Also einen neuen Lockdown?
Drohbotschaften sind nicht unser Weg. Wir informieren stets transparent, wie die Situation ist, versuchen zu überzeugen und die angemessenen Massnahmen zu ergreifen. Schauen Sie mal nach Europa. Nur wenige Länder versuchen es so stark mit der Selbstverantwortung wie wir. Darauf können wir stolz sein.

Aber wie lange müssen wir denn noch durchhalten? Können wir Weihnachten wieder normal feiern?
Ich kann hier keine falschen Hoffnungen machen und Märchen auftischen. Diese Weihnachten werden noch einmal äusserst speziell sein. Vielleicht müssen wir mehr draussen feiern. Es wird nicht einfach mit dem Kontakt mit den Grosseltern. Und auch Silvester wird diesmal nicht so ausgelassen sein wie immer. Glauben Sie mir, ich würde auch gern wieder mal feiern.

Wann feiern und tanzen wir wieder?
Dieser Winter wird uns noch einmal alles abverlangen. Dann kommt der Frühling und wärmere Tage. Und da gibts eine gewisse Perspektive. So wie wir uns jetzt einschränken müssen, wird nicht zum Normalfall. Wir werden uns wieder nahe kommen!

Peter Lauener, Simon Lanz, Referent,Stefan Honegger, pers. Mitarbeiter, BR Alain Berset, Covid-Sitzung

Alain Berset am Meeting mit seinen engsten Mitarbeitern. Hier verfolgt das BAG den Verlauf der Pandemie.

Kurt Reichenbach

Haben wir nächsten Frühling dann auch schon einen Impfstoff?
Ich hoffe, dass wir in der ersten Jahreshälfte 2021 impfen können. Und ich bin sehr stolz darauf, dass wir uns rechtzeitig darum bemüht haben, Impfstoff zu bekommen, und dabei – so scheint es – auf die richtigen Projekte gesetzt haben.

Jetzt wird sogar ein Impfstoff in der Schweiz, in Visp, hergestellt.
Ja, das finde ich sehr ermutigend, dass in der Schweiz wieder Impfstoff hergestellt wird – und zwar mit Hightech. In letzter Zeit geschah genau das Gegenteil, die Impfstoff-Produktion wurde aus der Schweiz ausgelagert.

Viele Schweizerinnen und Schweizer sind impfkritisch. Werden Sie als Gesundheitsminister vorangehen und sich als Erster impfen lassen?
Nein. Ganz sicher nicht.

Haben Sie auch Angst?
Nein, ich bin keine Risikoperson. Die Risikogruppen müssen wohl als Erstes geimpft werden. Das hängt von der Wirkung des Impfstoffs ab. Dieser wird nicht auf einen Schlag für alle da sein. Aber ich werde mich dann sicher impfen lassen.

Sind wir überhaupt fähig, mehr als die Hälfte des Landes rasch zu impfen? Offenbar müssen ja mindestens 60 Prozent geimpft sein, damit es wirkt.
Wir fangen nicht bei null an. Aktuell impfen sich jedes Jahr etwa 13 Prozent der Bevölkerung gegen Grippe. Aber es braucht natürlich mehr.

Bundesrat Alain Berset, Covid-Sitzung, 2020

Letzter Blick in die spiegelnde Liftwand vor dem Büro: Hut auf, die Maske sitzt – jetzt kanns losgehen. 

Kurt Reichenbach

Impfen ist das eine, testen das andere. Im Moment testen sich wieder weniger Menschen. 
Ja, das ist ein Problem. Ich appelliere hier nochmals an den Gemeinsinn: Alle, die Symptome haben, sollen sich umgehend testen lassen. Wir müssen mehr und schneller testen. Wartet bitte nicht, bis die Symptome heftiger werden. Das kann ins Auge gehen. Zudem ist der Test ja gratis.


Wirklich? So ein Test kostet doch über 100 Franken!
Nein, die Krankenkassen übernehmen bei Personen, die Covid-19-Symptome haben, die Kosten. Der Bund vergütet sie zurück.


Nicht nur, wenn der Test positiv ausfällt?
Nein, das wäre absurd.

Wie oft haben Sie sich schon testen lassen?
Schon zweimal. Der Bundesrat hat sich strenge Regeln auferlegt.

Irgendwie habe ich den Eindruck, dass trotz allen Appellen die Leute nachlässig werden. Viele fühlen sich allein gelassen, zum Beispiel die Gastronomie. 
Umso wichtiger ist, was wir am Mittwoch im Bundesrat beschlossen haben. Es braucht mehr Geld für Härtefälle. Niemand darf wegen Corona im Stich gelassen werden.

Aber verunmöglicht der Kantönligeist nicht eine effiziente und klare Umsetzung der Massnahmen?
Dass die Kantone die Massnahmen des Bundes auch mal strenger umsetzen, wenn es nötig ist, zeigt, dass der Föderalismus hilft, situativ das Richtige zu tun.

Wieso ist aus dem Röstigraben nun auch noch ein Corona-Graben geworden? Sind die Welschen mit ihrer Bisou-Kultur schuld?
Wieso es in der Westschweiz mehr Fälle hat, weiss bisher niemand genau. Ich lebe in einem zweisprachigen Kanton, und ich versichere Ihnen, dass in Flamatt die Menschen nicht wirklich anders leben und miteinander umgehen als auf der anderen Seite der Saane in Villars-sur-Glâne. Fakt ist, dass der persönliche Kontakt zwischen Deutsch- und Westschweizern im Alltag nicht sehr gross ist, das wirkt wohl hemmend auf die Weiterverbreitung über die Sprachgrenze hinweg.

Sie glauben also weiterhin an den Schweizer Weg?
Ja, Gemeinsinn ist besser als Zwangsmassnahmen. Gerade auch auf längere Sicht. Und die Schweizerinnen und Schweizer machen es bis anhin gut. Nach dem Winter kommt der Frühling.

Von Werner De Schepper am 20. November 2020 - 17:00 Uhr