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Erkenntnisse eines Psychologen

Wie Corona Gedanken um das eigene Dasein beeinflusst

Bringt mir das Leben noch die volle Zufriedenheit? Diese Frage stellte sich diese Woche Giulia Steingruber. Die Kunstturnerin hinterfragte in einem Blogbeitrag ihr Dasein als Profisportlerin. Wir haben mit Jan Rauch, Leiter Sportpsychologie am IAP Institut für Angewandte Psychologie an der ZHAW darüber gesprochen, weshalb die Corona-Zeit uns so sehr zum Nachdenken anregt.

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Symbolbild nachdenkliche Frau

Der Corona-Lockdown hat für alle Menschen in der Schweiz Veränderungen mit sich gebracht. Dies hat viele zum Nachdenken angeregt.

Getty Images

Vor dem Corona-Lockdown drehte sich Giulia Steingrubers Leben hauptsächlich ums Training und den Wettkampf. In den vergangenen Wochen hatte die Schweizer Kunstturnerin plötzlich Gelegenheit, aus diesen Strukturen auszubrechen. Statt wie gewohnt in Magglingen BE zu trainieren, konnte sie sich bei ihrer Familie in Gossau SG aufhalten und ein Zusammenleben wahrnehmen, dass sie in diesem Ausmass nicht mehr gekannt hatte.

Dieses neue Leben hat die 26-jährige Spitzensportlerin dazu bewogen, über ihre Zukunft nachzudenken. In einem eigens verfassten Blogbeitrag sinnierte sie diese Woche: Bringt mir dieses Leben die volle Zufriedenheit? Wir haben bei einem Experten nachgefragt, weshalb Corona und die damit verbundenen veränderten Lebensumstände uns derart ins Grübeln bringen.

Giulia Steingruber Bronze Medaille an Olympischen Spielen in Rio de Janeiro Brasilien 2016

Medaillen-Hoffnung: An den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro 2016 feiert Giulia Steingruber ihren bisher grössten Triumph und holt Bronze im Sprung.

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Dr. Jan Rauch, können Sie als Sportpsychologe Giulia Steingrubers Hinterfragen vom eigenen Dasein nachvollziehen?
Ja, sehr sogar. Aus psychologischer Sicht hat das sich Auseinandersetzen mit dem eigenen Leben und bestehenden Routinen etwas Gutes. Gerade in dieser Corona-Zeit und insbesondere als Spitzensportlerin ist dieses Grübeln völlig nachvollziehbar. Als Profi-Kunstturnerin bestimmt der Trainingsalltag seit Jahren ihr Leben. Der Lockdown hat auch bei ganz vielen anderen Sportlern und auch Personen, die einer Arbeit abseits vom Sport nachgehen, die Möglichkeit erzwungen, aus dieser Routine auszubrechen. Dieser Umstand hat bei vielen die Selbstreflexion in Gang gesetzt.

«Es ist eine riesen Chance, dass der Corona-Lockdown bei vielen Leuten ein solches Hinterfragen ausgelöst hat»

Ist es denn mehr eine Chance oder ein Risiko für all jene Menschen, die sich derzeit derart viele Gedanken machen?
Es ist eine riesen Chance, dass der Corona-Lockdown bei vielen Leuten ein solches Hinterfragen ausgelöst hat. Was die Menschen aus diesen Erkenntnissen für Schlüsse ziehen, ist komplett verschieden: Einige kommen zum Schluss: Es ist so toll, was ich im Leben mache. Für einen Sportler kann das heissen: Es fühlt sich schön an, wie ich gesund bin und jeden Tag Sport machen kann. Andere merken aus der Selbstreflexion: Da gibt es noch etwas anderes im Leben, das ich machen will.

Was an dieser Corona-Situation stimmt die meisten Menschen denn so nachdenklich?
Es sind zwei Komponenten: Zum einen haben wir es mit einer gefährlichen Krankheit zu tun, die man noch nicht so gut kennt. Zum anderen erleben wir eine Situation für Wirtschaft und Gesellschaft, die wir so noch nie erlebt haben. Es ist ungewohnt und das macht uns nachdenklich.

Zur Person

Dr. Jan Rauch Psychologe FSP am IAP an der ZHAW
ZVG

Dr. Jan Rauch ist Psychologe FSP und am IAP Institut für Angewandte Psychologie als Leiter Sportpsychologie tätig. Er ist Studienleiter von zwei Zertifikatslehrgängen und bietet sportpsychologische Beratungen im Einzel- und Teamsport an. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sowie Spezialkenntnisse liegen in folgenden Bereichen: 

  • Sportpsychologische Beratung für Einzelsportler und Teams
  • Sport- und Teampsychologie: Referate & Workshops
  • Transfer von sport- und teampsychologischen Erkenntnissen in die Privatwirtschaft
  • Positive Psychologie: Anwendungen im Sport, in Teams und in der Arbeitswelt
  • Konfliktmanagement & Mediation: Mediator SKWM (Schweizer Kammer für Wirtschaftsmediation)
  • Forschung: Sportpsychologie, Intuitive Physik, Risiko und Entscheidung unter Unsicherheit

Es gab in den vergangenen Monaten einige Sportler, die ihre Weichen neu gestellt haben. Die Ski-Stars, Tina Weirather oder Elia Zurbriggen etwa, verkündeten ihren Rücktritt. Glauben Sie, dass es aufgrund der Corona-Krise dieses Jahr vergleichsweise mehr Sportler gibt, die ihre Karriere beenden?
Ich glaube nicht, dass mehr Sportler zurücktreten werden als in anderen Jahren. Es wird ebenso viele geben, die gerade aufgrund des Lockdowns gemerkt haben, wie privilegiert sie sind und deshalb mit unermüdlichem Einsatz weiter ihre Sportler-Karriere verfolgen werden. Was den Zeitpunkt eines Rücktritts anbelangt, zeigt meine Erfahrung: Skifahrer reflektieren sich natürlich auch während der Saison, aber Gedanken wie «Will ich das alles noch?» treten in der Pause verstärkt auf. Jetzt sind sie in der Vorbereitungsphase, um fit zu werden für die nächste Saison. Da wird im Fitness Kraft- und Ausdauertraining gemacht, aber nicht Ski gefahren. Ihre grosse Leidenschaft ist für den Moment weit weg. Da hat man Zeit zu sinnieren, ob man aufhören will.

Wie man auf Social Media und im eigenen Umfeld erfährt, scheint die ernsthafte Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich und die Gestaltung der eigenen Zukunft nicht nur bei Sportlern ein zentrales Thema zu sein. Was für Personengruppen hinterfragen sich nach dem Lockdown?
Es sind wohl nicht bestimmte Personengruppen. Ob man sich vertiefter Gedanken zum eigenen Dasein macht, hängt von anderen Faktoren ab: Erstens, wie stark war die Routine, in der ein Mensch vor dem Lockdown verweilte? Im negativem Sinne gesagt: Den Menschen, die im Hamsterrad waren, hat der Lockdown bewusst gemacht, wie stark sie dort drin waren. Bei ihnen hat diese neue Perspektive eine gedankliche Auseinandersetzung stark gefördert. Sie realisierten: Hey, es geht auch anders! Zweitens, hängt es davon ab, wie stark eine Person vom Lockdown betroffen war. Ob nahe stehende Personen am Virus erkrankt oder gar gestorben sind. Ob sie Homeoffice hatten oder normal zur Arbeit gefahren sind. Es wird oft vergessen, dass es auch Branchen gibt, die in ihren Arbeitsprozessen und in ihrem Umsatz nicht riesige Veränderungen spürten. Drittens, Leute die schon vor dem Lockdown Zweifel oder kleine Frustrationen hegten, denen hat die Krise Schub verliehen, ernsthaft darüber nachzudenken.

Wie viele davon setzen die Erkenntnisse aus der Selbstreflexion in der Praxis um?
Solche Erkenntnisse können sich je nach Person positiv oder negativ auswirken und weitreichende oder auch weniger weitreichende Konsequenzen auf das persönliche Leben haben. Das lässt sich nicht in Zahlen sagen.

Giulia Steingruber sinniert über ihren Beruf. Was sind die häufigsten Themenfelder, die durch den Lockdown angestossen wurden zur Veränderung?
Ich könnte mir vorstellen, dass man sich ganz allgemein mehr hinterfragt, wie von aussen auf sich selbst und den Sinn des eigenen Seins und Tuns blickt. Durch die Verlangsamung des öffentlichen Lebens, die der Bundesrat verlangt hat, wurden Dinge und die Wahrnehmung davon verändert. Das Schulwesen, die Arbeitswelt, Infrastruktur, Helden des Alltags.

«Im Normalfall kommen die Leute erst zum Psychologen, wenn der Leidensdruck schon sehr gross geworden ist»

Vom Corona-Lockdown abgesehen, was für andere Faktoren lösen in uns aus, dass wir unser Leben und unsere Gewohnheiten so hinterfragen?
Einfach gesagt, wenn wir eine Situation erleben, die nicht so ist, wie sie vorher war beziehungsweise wie wir sie gerne hätten. Umso mehr man von einer Situation persönlich betroffen ist, umso mehr wird man sich und sein Leben hinterfragen.

Aus psychologischer Sicht: Wann ist es sinnvoll, dass ein Mensch eine Kurskorrektur in seinem Leben vornimmt und gewisse Gewohnheiten aus eigener Initiative ändert?
Sobald man spürt, dass sich grössere Herausforderungen am Horizont anbanen, die schwer zu bewältigen scheinen oder Routinen im eigenen Leben mit einem Motivationsverlust, Spassverlust oder Wohlbefindensverlust einhergehen. Dann ist es Zeit, etwas zu tun, sich sehr genau selbstzureflektieren. Womöglich resultiert daraus der Wunsch nach einer Kurskorrektur oder auch nur der Entscheid, eine gewisse Gewohnheit abzulegen. Die Praxis sieht leider anders aus: Der Mensch ist per se nicht sehr veränderungswillig und verharrt deshalb oft zu lange in Routinen, die ihm nicht mehr guttun. Im Normalfall kommen die Leute erst zum Psychologen, wenn der Leidensdruck schon sehr gross geworden ist und sind deshalb auch bereit, Geld in die Hand zu nehmen für eine professionelle Unterstützung in diesem Prozess. In dieser Phase sehen sie den Ausweg aus der Situation schon fast nicht mehr.

Wo sehen Sie für die Gesellschaft den grössten Mehrwert, der aus dieser Corona-Situation resultiert?
Es ist eine wertvolle Erkenntnis zu realisieren, was einem im Leben persönlich wichtig ist. Zudem lehrt uns die Krise, es ist mehr Veränderung in meinem Leben möglich als ich dachte. Das sehen wir zu gut in Sachen Technologie. Was haben wir uns gegen Webinare und Homeoffice vielleicht gesträubt. Die Corona-Krise hat uns gelehrt: Es ist nicht so schwierig, eine Veränderung zu erreichen und sie kann Positives mitsichbringen.

Wo sehen Sie für die Gesellschaft die grösste Gefahr, die aus dieser Corona-Situation resultiert?
Die wittere ich in den nächsten Monaten. Wenn wieder mehr Normalität einkehrt und der Alltag wieder einsetzt, laufen wir Gefahr, dass die Erkenntnisse aus der Krise schnell vergessen sind und wir unseren Fokus wieder auf den Konsum legen und die gelebte Solidarität vergessen.

Von Sarah Huber am 15. Mai 2020 - 19:39 Uhr