Diesmal ist alles anders. Wenn Extrembergsteiger Ueli Steck sagt, «niemals zuvor habe ich so gekämpft», und wenn Bergfotograf Robert Bösch erzählt, «mir war klar, jetzt sterbe ich» – dann muss irgendetwas schiefgelaufen sein. Dort oben. In der Todeszone. Auf dem Makalu, dem mit 8463 Metern fünfthöchsten Berg der Welt.
Dabei sind die beiden Männer Schwierigkeiten und Höchstleistungen am Berg gewohnt: Der 33-jährige Berner Ueli Steck ist einer der weltbesten Bergsteiger und Speed-Kletterer. Outdoor-Fotograf und Bergführer Bösch macht seit 25 Jahren Bergreportagen, war mehrfach auf Achttausender-Expeditionen dabei und hat viel von Stecks Sonderleistungen dokumentiert. So wie jetzt auf dem Makalu im Himalaja. Doch diesmal ist alles anders.
Schon der Anmarsch ist ein Abenteuer. Ende August treffen Steck, Outdoor-Fotograf Bösch und der Berner Bergführer Andy Wälchli in Nepal ein. Es folgt ein Fussmarsch zum Makalu-Basislager. Zehn Tage lang durch Regenwald und über geröllbedecktes Gletscher- und Moränengelände. Nonstop begleitet von Monsunregen, «immer feucht, immer nass. Unangenehm!», kommentiert Steck und erwähnt nur nebenbei die fünf Blutegel, die er sich vom Körper zupfte.
Am 1. September errichten die Schweizer ihr Basislager «BC» – Basecamp genannt – auf 5250 Meter Höhe. Der Makalu gilt für Höhenbergsteiger nach dem K2 als schwierigster Achttausender. Während Bösch und Wälchli die Normalroute versuchen, will Steck den Berg via Westpfeiler besteigen – als erster Mensch im Alleingang! Keine andere Expedition «stört» am Berg. Die drei sind hoch motiviert. Dann, es ist der 5. September, beginnen die Schwierigkeiten.
Zwei Tage lang schneit es ununterbrochen. Ein Meter Neuschnee im Basislager. Unmöglich zum Bergsteigen. Warten – über eine Woche lang. Dann starten Bösch und Wälchli auf der Normalroute, und Steck notiert in sein Tagebuch: «Steck klettert jetzt den Westpfeiler, solo und ohne fixe Seile.» Doch er scheitert. Zu viel Neuschnee. Der Westpfeiler ist unter diesen Bedingungen unmöglich zu schaffen. Die drei Bergsteiger treffen sich wieder im Basislager. Was jetzt? Sie warten – auf die nächste stabile Schönwetterperiode.
Am 21. September schickt Steck ein SMS in die Schweiz: «Robert, Andy und ich sind unterwegs auf der Normalroute. Sind im Camp 1 auf 6000 Metern. Morgen gehts weiter zum Camp 2.» Doch erneut geht etwas schief. Wälchli fühlt sich sehr schlecht, hat gesundheitliche Probleme. Die Bedingungen sind enorm schwierig: tiefer Neuschnee, überzogen von einer Eisschicht, die nicht trägt.
Bei dem Bruchharst wird jeder Schritt zur Qual. Auf 6500 Metern steht das nächste Biwak, Camp 2. Draussen sind minus 20 Grad, am Innenzelt klebt Raureif, der auf die Männer rieselt. Keiner kann richtig schlafen. Am Morgen des dritten Tages steigt Wälchli wieder ab ins «BC»-Basislager. Steck und Bösch steigen weiter auf, errichten Camp 3 auf 7450 Metern. Morgen sollte der Gipfel erreichbar sein.
Tag vier am Makalu. Gipfeltag. Morgens um drei Uhr brechen Bösch und Steck auf. Noch immer dieser kräftezehrende Bruchharst; die beiden wechseln sich mit der Spurarbeit ab. Steck hat kalte, «hölzerne» Füsse. Erfrierungen! Bösch massiert ihm die Füsse und zweifelt: «Auf all meinen Achttausendern stand ich stets am Vormittag auf dem Gipfel.» Diesmal aber, wenn überhaupt, kann er den Gipfel erst am späten Nachmittag erreichen. In dieser Höhe passieren die meisten tödlichen Unfälle, wenn man zu spät dran ist.
Er habe sich körperlich noch fit gefühlt, sagt Bösch, «aber mein Kopf riet mir, jetzt umzukehren». Es ist zehn Uhr morgens auf 8000 Meter Höhe, keine 500 Meter unter dem Gipfel, so nahe?… Bösch kehrt um, Steck steigt weiter auf. Er gibt sich für den Gipfel Zeit bis 16 Uhr. Eine riskante Taktik. Ob das gut geht?
Und tatsächlich: Das Drama am Makalu beginnt. Doch es erwischt nicht Gipfelstürmer Steck, sondern Bösch. Auf dem Abstieg fühlt er sich von einer Sekunde auf die andere sehr schlecht. «Als habe jemand einen Schalter umgelegt, nichts ging mehr, meine Batterien waren total leer.» Ihm wird klar: «Bösch, jetzt hats dich also auch erwischt.
Wie schon so viele auf dieser Höhe. Du kommst nicht mehr heim. Du stirbst.» Er denkt an seine Frau, an die beiden Söhne. Noch einmal zwingt er sich vorwärts. Zwingt den linken Fuss, zwingt den rechten Fuss. Weiter! Er schluckt Dexamethason gegen Höhenkrankheit. Weiter! Absteigen! Raus aus der Todeszone! Zwingt den linken Fuss, zwingt den rechten Fuss – und erreicht tatsächlich Camp 3. «Auf keinen Fall ins Zelt liegen», herrscht er sich an, «weiter runter!» Es ist der 24. September, zwölf Uhr Mittag. Im Zelt hinterlässt er eine Notiz für Steck. «Steige ab BC. Kämpfe ums Überleben. Röbi.»
Zur gleichen Zeit quält sich Steck zum Gipfel. «Noch nie in meinem Leben habe ich so gekämpft», wird er später sagen. Auch er leidet in der Höhe, hat Aussetzer, fühlt sich «wie in Watte verpackt und mit ein paar Glas Wein zu viel». Um 15 Uhr steht Steck zuoberst. 8463 Meter hoch. Der Makalu. Sein Berg. Schnell ein Gipfelfoto – und noch schneller wieder runter. Steck ist fix und fertig, «auf allen vieren erreichte ich Camp 3». Es ist 20 Uhr. Er findet Böschs Notiz. «Kämpfe ums Überleben?…» Steck ist schockiert, will helfen. Doch er weiss: So total erschöpft kann er unmöglich losziehen und Röbi suchen.
Es gelingt ihm, Funkkontakt ins Basecamp herzustellen. «Hier ist Ueli. Was ist mit Röbi?» Unverständliche Wortfetzen sind die Antwort. Steck durchlebt eine Höllennacht. Lebt Röbi noch? Und dann sind da noch diese furchtbaren Schmerzen in seinen gefühllosen Füssen?… Was Steck nicht weiss: Der für ihn unverständliche Funkspruch aus dem BC lautete, «Röbi ist hier, alles in Ordnung». Bösch hats tatsächlich geschafft, hat das 3000 Meter tiefer liegende BC erreicht, erschöpft zwar, aber gesund.
Tags darauf erreichte auch Steck das Basislager. Wiedersehen. Erleichterung. Freude. Und ein grosses Bier. Uelis Gipfelbesteigung sei eine fantastische Leistung, urteilt Bösch heute, fünf Wochen nach dem Makalu-Finale. «Die letzten 500 Höhenmeter sind selbst bei normalen Bedingungen wegen der dünnen Luft extrem hart – bei diesen Schneeverhältnissen sind sie brutal.» Steck revanchiert sich: «Nur dank Röbi, der super Spurarbeit leistete und meine Füsse massierte, stand ich ganz oben.»
Uelis Füsse haben sich erholt, haben ihre Farbe von Dunkel-lila zu Hellrot verbessert. Noch spüre er nicht alle Zehen, sagt er. Vielleicht hilft ja ein Bad im Meer. Mit seiner Frau macht Steck Ferien auf Mallorca. Steck und Strand – schwer vorstell-bar. Er grinst. Auf der Insel habe es auch ein paar Berge. «Mit schönen, steilen Wänden.»