Sie lebte ihren Traum, gewann eine Medaille nach der anderen, stand im Scheinwerferlicht. Doch was bisher keiner wusste: Ariella Kaeslin litt jahrelang unter den Demütigungen ihres Trainers in Magglingen. Immer wieder musste sich die 27-Jährige anhören, dass sie eine fette Kuh sei, zitiert die «NZZ am Sonntag» einen Auszug aus Kaeslins neuem Buch «Leiden im Licht».
Zum ersten Mal nach ihrem Rücktritt 2011 äussert sie sich über ihre Zeit als Spitzensportlerin. Über den Leistungsdruck, den Druck, möglichst dünn zu bleiben und den stets gleichen Ablauf in der Trainingshalle - jeden Tag. Dass jeder Tag wie der vorangegangene gewesen sei, habe sie fast wahnsinnig gemacht. Damals sei der schönste Moment des Tages der Abend gewesen, schreibt die ehemalige Kunstturnerin in ihrem Buch. «Wenn er einem nichts mehr anhaben konnte. Er. Der Tag. Und er. Der Trainer.»
Trotzdem gab Ariella Kaeslin ihren Traum von der Profi-Karriere nicht auf. Ab Sommer 2001, mit knapp 14 Jahren, wohnte sie unter der Woche in Magglingen bei einer Gastfamilie, die Wochenenden verbrachte sie zu Hause. Während der Autofahrt mit ihrer Mutter sagte sie oft: «Ich habe Angst vor dem Training.» Doch wenn ihre Mutter sie aus der Sportschule nehmen wollte, wehrte sich Ariella.
Es gab zwar Momente, in denen sich Kaeslin gegen ihren Trainer wehrte, doch der merkte davon nichts. Aber in solchen Momenten habe sie wenigstens gespürt, dass ihre Widerstandskraft noch leben würde, schreibt die junge Frau. Beispielsweise habe der Trainer sie und eine andere Turnerin zum Krisengespräch gerufen. Auf die Frage, wieso sie nicht richtig trainiere, antwortete Ariella: «Weil du ein Arschloch bist.» Zwar verstand der Trainer die Antwort nicht - er kam aus Frankreich und sprach kein Deutsch -, aber der Sportlerin tat es trotzdem gut, es endlich aussprechen zu können.
Was bisher keiner wusste: die Spitzensportlerin gab ihren Rücktritt - nur ein Jahr vor den Olympischen Spielen - bekannt, weil sie unter einer Erschöpfungsdepression litt. Die Erfolge hätten ihr keine Entspannung gegeben, sondern das Gefühl, immer mehr leisten zu müssen. Damals sei sie krank und müde gewesen. Heute gehe es ihr wieder gut, betont Ariella Kaeslin. Mit dem Buch will sie nicht mit den Leuten in Magglingen abrechnen, sondern sensibilisieren. Sie wolle zeigen, was geschehen könne, wenn sich ein Kind einer Sportart hingebe, in der junge Frauen vor allem Erfolg hätten, wenn sie Mädchen bleiben würden.