Zum Fotoshooting in einem Zürcher Studio kommt Giulia Steingruber in ihrem neuen Opel Adam gefahren. Eine ziemlich unspektakuläre Tatsache für die einen, eine grosse Erleichterung aber für die 19-jährige Ostschweizer Turnerin und ihre Familie. Jahrelang mussten Fabiola und Kurt Steingruber ihre erfolgreiche Tochter überallhin chauffieren. Oft verpflegte sich Giulia, die mit 14 nach Magglingen BE in die Eidgenössische Sportschule zog, unterwegs «fliegend». Jetzt steht sie endgültig auf eigenen Beinen. Als volljährige junge Frau darf sie ihre Entscheidungen selber treffen. Wie etwa jene für eine Tätowierung. Giulia ist reifer geworden, selbstbewusster. Sie steht zu ihrem Körper, auch wenn er nicht ihrem Idealbild entspricht, wie sie im Interview zugibt.
Schweizer Illustrierte: Giulia Steingruber, welches Verhältnis haben Sie zu Ihrem Körper?
Giulia Steingruber: Er ist bullig, es gibt aber Schlimmeres. Das geht auch wieder weg, es gehört halt zu diesem Sport. Nur in der Sommerzeit ist es schon ein bisschen schwer, muskulöser als die anderen zu sein. Manchmal wird man komisch angeschaut, aber mittlerweile ist es mir egal. Wenn ich irgendwann nicht mehr so viel trainiere, geht das wieder zurück.
Aber Sie haben kein Problem, sich in der Badi zu zeigen.
Früher war es schon ein bisschen ein Problem, aber jetzt ist es okay. Ich wurde auch schon gefragt, ob ich Bodybuilderin sei, das nervte manchmal. Heute sehe ich das gelassener. Wenn ich anständig gefragt werde, gebe ich auch Antwort.
Turnen hinterlässt Spuren.
Jetzt gerade bin ich ziemlich lädiert. (Sie zeigt die Unterseiten ihrer Handgelenke.) Die Schnitte hole ich mir durch die Reibung am Barrenleder. Da ist auch Hornhaut. Momentan ist es schlimm. Es tut weh, ist offen und geht jedes Mal wieder auf beim Trainieren.
Stört Sie das?
Es tut schon weh, wenn du das Handgelenk beugen musst, das ist unangenehm. Am Barren gehst du die ersten zwei Mal dran, dann ist es wieder offen, aber irgendwann spürst du es nicht mehr. Es ist halt einfach so.
Und optisch?
Schön ist es auch nicht gerade. Aber es geht ja wieder weg. Ein Wochenende Pause, dann ist es verheilt. Bauarbeiter haben auch nicht die schönsten Hände.
Wie behandeln Sie die Wunden?
Mit der Magic Cream meines Trainers Zoltan Jordanov aus Ungarn. Die nützt sehr gut bei Wunden. Normale Handcrème darf man nicht zu oft auftragen, sonst wird die Haut weich, das macht es nur schlimmer.
Wissen Sie, was in der Magic Cream enthalten ist?
Wahrscheinlich Arnika, es ist von der Konsistenz her wie Oxyplastin und riecht auch so.
Turnen erfordert jahrelanges hartes Training. Haben Sie keine Angst vor Verschleisserscheinungen oder Spätfolgen?
Darüber mache ich mir jetzt noch keine Gedanken. Dinge wie Entzündungen gehören schon fast zu dem Sport, es ist «normal». Du lernst von klein auf, damit umzugehen. Du weisst, wie du es behandeln musst - wann kühlen, wann wärmen. Ich habe mittlerweile ziemlich lose Fussbänder, ohne Tape geht es nicht mehr. Vielleicht werde ich später die Folgen davon spüren.
Was gefällt Ihnen am besten an Ihrem Körper?
Hm. Keine Ahnung. (Überlegt lange) Vielleicht die schönen Lippen, die ich von meiner Mutter geerbt habe?
Einfacher ist es meist zu sagen, was man an seinem Körper verändern würde.
Also Schönheitsoperationen würde ich nicht machen. Im Moment bin ich zufrieden. Ganz allgemein mag ich aber Füsse nicht. Nicht nur meine. Keine Ahnung, warum.
Schminken Sie sich fürs Turnen?
Zum Trainieren trage ich höchstens ein wenig Wimperntusche oder Lidschatten auf. Aber nicht gerade so wie in den Ausgang. Und nicht jeden Tag gleich.
Wie lange brauchen Sie, um sich für den Ausgang parat zu machen?
Eine halbe Stunde sicher. Mit Haarestrecken eine Dreiviertelstunde. Ich habe eben ziemlich viele Haare. (Sie lacht.)
Schon als Mädchen hatte Giulia ein Gesicht wie gemalt. Als Dreijährige war sie einmal mit ihrem Grossmami unterwegs und wurde von einer Frau angesprochen, die selber Puppen herstellte. «Darf ich eine Puppe mit deinem Gesicht machen?», fragte die Frau. «Diese Puppen konnte man später sogar kaufen», erzählt Mutter Fabiola stolz. Drei Jahre später wollte Giulia - fasziniert von den schönen Turn-Dressli - ins Geräteturnen. Mit sieben wechselte sie zum Kunstturnen. Mit acht holte sie den ersten von mehreren Titeln als Junioren-Schweizer-Meisterin.
Andere Sportarten kamen gar nie infrage?
Turnen war immer, was ich wollte. Ich hätte mich höchstens noch im Kampfsport oder beim Tanzen gesehen. Ich liebe Tanzfilme sehr und wünschte mir immer, ich könnte auch so gut tanzen wie die Darsteller im Film «Step up». Aber ich bin gut aufgehoben, wo ich bin.
Ihre Paradedisziplinen sind heute Boden und Sprung. Waren das auch schon in der Schule ihre Lieblingsgeräte im Turnen?
Da ich ziemlich früh nicht mehr ins Schulturnen ging, muss ich da gut überlegen… Die Schwungringe mochte ich! Aber ab der 5. Klasse war ich wie gesagt dispensiert.
Nun gehören Sie zur Weltklasse. Am 15. April beginnt die Kunstturn-EM in Moskau. Wie ist Ihre Befindlichkeit vor solchen Grossereignissen?
Ich muss im Training ein gutes Gefühl haben, mich gut vorbereitet fühlen. Am Abend vor einem Wettkampf habe ich immer Mühe einzuschlafen, da geht mir alles Mögliche durch den Kopf. Wenns nicht so wäre, wäre aber irgendwas auch nicht gut. Das Adrenalin brauche ich, um gut zu turnen.
Was tun Sie gegen die Schlaflosigkeit?
Ich muss den Wettkampf so gut wie möglich im Kopf durchgehen und mich so beruhigen. Irgendwann schlafe ich dann plötzlich, dann merke ich es gar nicht mehr.
Wie laufen die letzten fünfzehn Minuten vor einem Wettkampf ab?
Nach dem Einturnen warten wir zehn bis fünfzehn Minuten. Dann gibt mir der Trainer jeweils ein kleines Töpfli mit Honig. Der darin enthaltene Zucker beruhigt mich.
Wollen Sie dann lieber für sich sein - oder tut Ablenkung gerade gut?
Ich bin dann zwar in meinem Umfeld, kann aber relativ gut abschalten. Und die andern sehen sofort, wenn ich nicht ansprechbar bin und meine Ruhe brauche. Auch der Trainer kennt mich mittlerweile. Danach stellen wir uns in der richtigen Reihenfolge hin, dann bin ich ziemlich nervös. Aber voll konzentriert.
Was geht einem eigentlich beim Anlauf auf den Bock durch den Kopf?
Ich denke an gar nichts. Das ist auch das Beste. Der Körper kennt Bewegung und Abläufe. Beim ersten Mal war es ein bisschen komisch, dass da eine Kamera an einem vorbeischwenkt beim Anlauf. Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt und registriere es nicht mehr. Ich sehe nur noch den Bock, alles andere ist ausgeblendet, ich habe den Röhrenblick. Anmelden, hinstehen, noch einmal tief durchatmen - drauflos rennen…
Im Sommer ist es fünf Jahre her, dass Sie als 14-Jährige allein von Gossau nach Magglingen gezogen sind. Sind Sie rückblickend immer noch der Meinung, dass es der richtige Schritt war?
Im Moment schon, ja. Ich habe so viel erlebt und kam in der Welt herum. Ich bin glücklich, auch wenn es anfangs schwierig war, mit 14 weg von zu Hause zu gehen. Ich habe jedoch viel mit meinen Eltern telefoniert, meine Mutter hat mich oft besucht. Und der Tagesablauf in Magglingen ist so durchgeplant, dass man nur abends Zeit für Heimweh hat.
Vor über einem Jahr brachen Sie jedoch die Handelsmittelschule ab und setzen seither auf die Karte Turnen. Warum?
Es wurde einfach zu viel. Im Hinblick auf London 2012 stieg das Medieninteresse, ich war oft erkältet, fehlte zunehmend in der Schule und kam nicht mehr mit. Nachdem ich ein Stress-Ekzem am ganzen Körper bekommen hatte, schrieb mich meine Ärztin krank. Da war klar: Ich musste irgendwo reduzieren. Sicher ist eine Ausbildung wichtig, aber heutzutage kann man vieles nachholen. Das erleichterte den Entscheid. So konnte ich mich voll auf London konzentrieren.
Hatten Ihre Eltern keine Mühe damit?
Sie hatten stets betont, wie wichtig eine Ausbildung sei. Aber schliesslich waren es dann sie, die den Anstoss zu einer Veränderung gaben, darüber war ich sehr froh. Sie haben mich super unterstützt. Wir sprachen mit der Schulleitung. Am Ende waren alle mit der Lösung zufrieden. Es war wie eine Befreiung. Im Gegenzug musste ich meinen Eltern versprechen, nach den Olympischen Spielen Sprachunterricht zu nehmen. Jetzt lerne ich Englisch, will das «First» machen und vielleicht noch eine andere Sprache erwerben. Sprachen liegen mir. Aber im Moment steht trotzdem der Sport im Vordergrund.
Wollen Sie die Handelsausbildung irgendwann beenden?
Nein. Das Kaufmännische ist überhaupt nicht die Richtung, die ich einschlagen möchte. Mich interessieren viel mehr Themen rund um die Gesundheit. Ich würde gern etwas Soziales mit der Gesundheit verbinden. Vielleicht mache ich die Fachmittelschule.
Die junge Frau weiss, was sie will. Schon als Elfjährige verkündet Giulia bei einem Podiumsgespräch selbstbewusst, ihr Ziel sei Olympia 2012. Sieben Jahre arbeitet sie hart darauf hin. In London verpasst sie als Neunte den Sprung-Final, im Mehrkampf wird sie 14. Am selben Abend sitzt die Ostschweizerin enttäuscht im House of Switzerland am Tisch mit Roger Federer, dessen Frau Mirka und Turnkollege Claudio Capelli. Der Tennis-Champ tröstet sie: «Sei nicht traurig, Olympische Spiele sind einfach etwas Spezielles.» Eine Begegnung, die Giulia auffängt und ihr unter die Haut geht - im wörtlichen Sinn: Die olympischen Ringe und «London 2012» lässt sie sich nach der Rückkehr in die Schweiz eintätowieren.
Haben Sie die Ereignisse von London schon verarbeitet?
Eigentlich recht gut. Aber ich erinnere mich sehr gern an die Spiele. Es war ein wunderschönes Erlebnis, kaum in Worte zu fassen.
Spürten Sie den olympischen Geist?
Olympische Spiele sind wie eine andere Welt. Mir imponierte die lockere Stimmung im Dorf. Anfangs sieht man dort Superstars wie Michael Phelps, der selbst beim Essen die Kapuze an lässt. Dann kommt Bolt rein, und du machst nur noch grosse Augen. Irgendwann läufst du aber einfach daran vorbei, es ist nichts Aussergewöhnliches mehr.
Haben Sie auch Autogramme gesammelt?
Einmal stand ich in der Nähe von Bolt und wollte ein Foto mit ihm machen. Ich suchte kurz mein Handy, und als ich wieder aufschaute, war er schon von einer Schar anderer umkreist. Da liess ich es bleiben.
London ist vorbei. Richtet sich nun der Blick auf Rio 2016?
Das ist schon mein Ziel. Aber die Gesundheit muss mitspielen, und Freude am Turnen braucht es dazu sicher auch. Momentan siehts eigentlich gut aus.
Werden Sie sich dann «Rio 2016» auf die linke Seite tätowieren lassen?
Wenn ich dabei sein sollte: klar!