Ein kraftvoller Antritt, eine Leichtigkeit im Lauf und preisgekrönte Schnelligkeit sind nicht die einzigen Gemeinsamkeiten zwischen Kariem Hussein und seiner Shootingpartnerin Hafida el Faraon de la Bérondière. Zugegeben, beim Namen hat der Sloughi, ein arabischer Windhund, die Nase vorn. Doch sonst hat die Hündin ihre Wurzeln wie Halbägypter Hussein in Nordafrika, beide besitzen einen Europameistertitel (Hafida im «Coursing») - und den absoluten Willen. Vielleicht haben die beiden deshalb von Beginn weg einen sehr guten Draht zueinander.
Bei Hussein zeigt sich seine Nervenstärke schon, als er noch Fussballer ist. Er schnappt sich jeweils den Ball, wenn sein Team einen Penalty zugesprochen bekommt. Und er verschiesst kein einziges Mal.
Das verwundert nicht. Hussein ist in einer Disziplin Champion, in der mentale Stärke Voraussetzung ist. Ohne die Fähigkeit, cool zu bleiben, könnte er sich gar nicht Europameister nennen: Im Halbfinal in Zürich 2014 stürzt er in der ersten Streckenhälfte beinahe und muss das Feld von hinten aufrollen, im Final stolpert er als Führender auf der Zielgeraden kurz. Und jeweils vor einem Start, wenn 400 Meter und zehn Hürden vor ihm liegen, «weiss ich, dass ich zum Schluss fast sterben werde». Die Beine übersäuern bestimmt, jeder wird leiden, ob Amateur oder Olympiasieger. «Aber genau das macht es eben auch aus», sagt Hussein.
Dann kommts drauf an, wer mit dem Leiden auf den letzten Metern am besten umgeht. Wer nochmals alle Kräfte mobilisieren oder im Schmerz einen Zacken zulegen kann. Hussein kann, meistens.
Der Kopf ist nicht das Problem bei Kariem Hussein. Er will siegen. Wenn er sich entschieden hat, worin. Denn eigentlich - die Geschichte machte nach seinem Europameistertitel schnell die Runde - wollte er ja Fussballer werden. Hat in der 2. Liga gespielt und ist nur durch Zufall auf die Leichtathletik aufmerksam geworden, als er in der Schule an einem Sportevent im Hochsprung 2,01 Meter bewältigte. Hussein will Erfolg haben, und das nicht nur im Sport: Er möchte wie sein Vater Medizin studieren, das ist schnell klar. Und da sich dieses Studium nicht mit den Verpflichtungen eines Mannschaftssportlers verträgt, kommt ihm sein spät entdecktes Talent in der Leichtathletik gerade recht. Der damals 20-Jährige hat keine Idole in dieser Sportart, aber er weiss, dass die Strecke 400 Meter Hürden wie für ihn gemacht ist, für den 1,91 grossen Modellathleten mit den langen Beinen, die jede Frau neidisch machen. Und er beginnt die Disziplin zu mögen. «Es ist ein Sprint aus den Startblöcken und dennoch lange genug, um zum Schluss noch einen Fehler wettzumachen. Für die Zuschauer ist es eine tolle Distanz zum Mitfiebern. Es ist einfach die richtige Distanz.»
Wichtig ist auch, dass sich das Training ums Studium herum arrangieren lässt. Vergangenen Oktober begann für den 26-Jährigen die Praktikumszeit. Die neun Monate teilt er auf zwei Jahre auf. Angefangen hat er mit Gynäkologie, dann war er im Lungenzentrum, im April folgt der zweite Einsatz in der Orthopädie. Und dann erst einmal die Wettkampfsaison. Würde er das Studium nicht so ausdehnen, hätte er die Abschlussprüfungen genau vor den Olympischen Spielen in Rio 2016. Kein guter Plan.
Das Schwierige sei gar nicht so sehr, Studium und Training unter einen Hut zu bringen, sondern die Planung der nächsten Schritte. «Zum Beispiel, ob ich nach den Abschlussprüfungen gleich mit der Assistenzzeit anfange. Solche Dinge muss ich irgendwann entscheiden. Es wartet niemand darauf, dass ich mich bewerbe.»
Hussein ist ein Mensch, der sich viele Gedanken macht, der viel nachdenkt und alles optimieren will. Das ist auch für sein Umfeld eine Herausforderung. Für seinen Trainer Flavio Zberg etwa, mit dem er beim LC Zürich seit 2012 zusammenarbeitet. Der 33-Jährige ist mit vollem Engagement beim «Projekt Hussein» dabei und ebenso akribisch wie sein Athlet. Dennoch ist sich Hussein bewusst, dass er mit seiner fordernden und kompromisslosen Haltung auch schwierig und anstrengend sein kann. «In gewissen Phasen merke ich, dass ich aufpassen muss, wem ich etwas sage und was. Ob ich dies oder jenes wirklich ansprechen soll und nochmals mit demselben Thema komme», gibt er sich selbstkritisch. «Das muss ich dann abschätzen können. Aber wenn ich etwas will, passiert es immer mit dem Hintergedanken, mich zu verbessern und das Beste aus mir herauszuholen.» Die Optimierung reicht bis hin zum Mittagessen zwischen Studium und Training, für das Hussein eine Lösung präsentiert haben will, um keine Zeit zu verlieren. «Ich bin ungeduldig, warte nicht gern aufs Essen», sagt er schmunzelnd.
DIE NUMMER 4 DER WELT
Es gab Zeiten, da empfand er seinen Perfektionismus als störend. Wenn er zum Beispiel mit Kollegen im Ausgang war. In einem Moment dachte er: Mist, ich sollte eigentlich schlafen, und im nächsten: Geniesse es doch einfach! Mittlerweile ist er lockerer geworden und sieht seinen Willen, alles zu optimieren, nicht mehr als Schwäche. «Eigentlich ist es doch eine Stärke. Man sollte es locker nehmen, dass man ein Perfektionist ist.» Das machen, worauf man Lust habe. Und wenn das heisst, früh heimzugehen, um am nächsten Tag fit zu sein, dann sei es eben so. «Ich muss akzeptieren, dass ich so bin.»
Den Leichtathletikfans soll sein Streben nach einem immer besseren Kariem Hussein recht sein. So viele Schweizer mit Potenzial für die Weltspitze gibt es in der Basissportart nicht. Mit seinen 48,47 Sekunden ist der Thurgauer in der Bestenliste 2014 die Weltnummer 4. An der Zeit, die er zum Saisonabschluss am Continental Cup in Marrakesch lief, erstaunt ihn vor allem der Zeitpunkt. Der neue Europameister war etwas müde im Kopf, die Spannung nicht mehr so richtig da, er trainierte bereits weniger. «Vielleicht lag es genau daran», überlegt er, «dass ich bereit und locker war». Eine Zeit um die 48,60 hätte er eigentlich schon an der Atletica Genève Mitte Juni laufen sollen, verhaute aber den letzten Rhythmus. «Für die EM gesehen, war es wohl gut, dass ich damals noch keine 48er-Zeit gelaufen bin», sagt Hussein rückblickend.
Dass der Senkrechtstarter seine Bestzeit im Lauf einer Saison um mehr als eine Sekunde und auf eine im weltweiten Vergleich beachtliche Zeit drückte, erhöht die Erwartungen an die kommende Saison. Bei ihm wie bei der Öffentlichkeit. Er will sich wieder verbessern, obwohl er wegen seiner Praktika weniger Zeit zur Erholung hat als bisher. Denn es scheint klar, dass die Zeit von 2014 bereits dieses Jahr nicht mehr für die Top 5 reichen wird. Viele aussereuropäische Athleten hatten letztes Jahr eine Saison ohne grosse Titelkämpfe, in diesem August jedoch werden im «Vogelnest»-Stadion in Peking die Weltmeisterschaften ausgetragen.
«Natürlich ist es mein Ziel, den Final zu erreichen und dort das Beste aus mir herauszuholen. Aber eine WM ist halt schon etwas anderes.» Auch über den Schweizer Rekord von Marcel Schelbert aus dem Jahr 1999 (48,13 Sekunden) macht er sich nicht gross Gedanken. Wenn er fällt, fällt er eben. Dem Zürcher reichte der Rekordlauf damals zu WM-Bronze in Sevilla.
Vielleicht verhilft Hussein sein neongelber Anzug zu neuen Bestleistungen. Der Single spricht offen darüber, dass ihm sein Aussehen wichtig ist - und wer in einem hautengen Body in der Öffentlichkeit und vor Kameras herumlaufen muss, besitzt besser eine ordentliche Portion Selbstvertrauen. Hussein selbst hat sich nach seinem Sieg im EM-Final nach Momenten der Ungläubigkeit im Stadion schreiend das Leibchen vom Körper gerissen. Wenn er die Bilder heute sieht, muss der sonst eher ruhige Typ schmunzeln. «Das war eine Extremsituation. Die Emotionen mussten raus, das habe ich mir nicht vorgenommen. Aber ich denke, dass Sprinter alle etwas extrovertiert sind. Das gehört dazu.»
Sein Outfit unterstützt das Gefühl auf der Bahn. «Wenn ich einen heissen Body anhabe und einen passenden Schuh, fühle ich mich besser. Das macht mich nicht schneller, aber es puscht mich, gibt mir noch mehr Selbstvertrauen.» Er bezeichnet das als «Fussballer-Tick». Fussballer würden schon in der 4. Liga herumlaufen wie Cristiano Ronaldo.
So eitel wie der Real-Madrid-Star ist Hussein vielleicht nicht, doch es ist ihm wichtig, wie er ankommt. Ob ihm sein gutes Aussehen auch bei der Vermarktung hilft? Er zuckt mit den Schultern. «Fürs Aussehen kann man ja nichts. Aber Auftreten und Ausstrahlung kann man beeinflussen, und ich denke, die können einem schon helfen.» Er selbst ist seit seiner Goldmedaille gut aufgestellt, kann seine Vermarktung allerdings nicht ausreizen. Für noch mehr Verpflichtungen für Sponsoren würde ihm neben Studium und Training die Zeit fehlen.
Das hat alles Zeit bis später. Ohnehin blickt er der Zukunft trotz seiner hohen Ziele in zwei Welten entspannt entgegen. «Felix Sanchez wurde auch mit 34 Olympiasieger.» Der Dominikaner war über Jahre hinweg ein Publikumsliebling bei Weltklasse Zürich. Zumindest in dieser Hinsicht ist Hussein einem ganz Grossen seiner Disziplin schon mal auf den Fersen.