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Stoff für die Zukunft

Diese Manufakturen machen ein altes Handwerk zukunftsfähig

Das Vermächtnis der blühenden Textilwirtschaft der Schweiz führt Tradition in die Zukunft, mit hohem Qualitätsversprechen und Innovationskraft. Vom Garn zum Stoff stellen wir drei Manufakturen mit beeindruckend langer Historie vor.

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Stoff für die Zukunft STYLE 01/24

Die Jakob Schlaepfer AG beliefert internationale Couture-Boutiquen und Luxushäuser.

Véronique Hoegger

Die Seidenspinner von Gersau

Anno 1730 landete erstmals Seide in Gersau, dem Dorf am Fuss der Rigi. Transportiert wurde die kostbare Fracht über den Seeweg, in Gersau entstand die Seidenspinnerei-Industrie. Das Handwerk wurde während dreier Jahrhunderte fast ununterbrochen gepflegt. Heute ist es die Firma Swiss Mountain Silk, die edelste, gesponnene Seide für die Modebranche in der grossen Welt fertigt. 1771 war es ein Andreas Camenzind, der die Grundlage legte, heute sind es die Geschwister Nicole und Mathias Camenzind, die buchstäblich die Fäden in der Hand halten und die Spinnerei mit 22 Angestellten leiten. Der Maschinen- und Software-Ingenieur und die Personalfachfrau waren erst in anderen Firmen tätig, bevor sie den Betrieb am Dorfbach von ihrem Vater übernommen haben und in fünfter Generation in die Zukunft führen.

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Die Geschwister Nicole und Mathias Camenzind führen die Gersauer Seidenspinnerei in fünfter Generation.

Véronique Hoegger

Der Rohstoff kommt aus China. «China hat 5000 Jahre Erfahrung mit Seide, wir beziehen von drei der besten Lieferanten», erzählt Mathias Camenzind. Jährlich kommen rund 15 Tonnen in Form von Faserbünden nach Gersau. Ein enormes Volumen – das Material ist ja federleicht. Verpackt ist es in Kartontonnen. In so eine Tonne zu fassen, fühlt sich an, als streichle man eine Wolke, am liebsten würde man kopfüber eintauchen. Im Lager von Swiss Mountain Silk sind stets eine bis eineinhalb Tonnen vorrätig, so überbrücken Camenzinds auch mal eine minderwertige Ernte und Spekulation. «Oder Lieferkettenprobleme wie zur Corona-Zeit», ergänzt Nicole Camenzind. In den grossen hellen Hallen der Fabrikation surren meterlange Maschinen, die älteste eine 60-jährige Rieter aus Winterthur, weiter hinten die neuste, die 500 Meter in der Minute spinnt, voll computergesteuert. Swiss Mountain Silk kann der Seide andere Materialien wie Wolle oder Lurex beimischen, ganz nach Kundschaftswunsch entstehen die Fäden, in Kleinstmengen von zehn Kilo oder in grossem Umfang von zehn Tonnen. Innovation gehört zum Erfolgsgeheimnis der Camenzinds, sie entwickelten zum Beispiel eine Mischung mit irischen Algen, das Resultat nennt sich Sea Cell. Die Firma liefert ihre Spulen an französische Luxuslabels für Krawatten, an exklusive Hersteller feiner Lingerie, von Socken oder Strickwolle, für die Teppichproduktion nach Marokko und Guatemala, Hauptmärkte sind Europa, USA, Kanada, Australien.

Im Tourismusbüro in Gersau können Interessierte Führungen bei Swiss Mountain Silk buchen. Die lange Geschichte der globalen und der Gersauer Seidenspinnerei erzählt kurzweilig Gerhard Camenzind im Buch «Alles Seide. Eine Zeitreise».

26 Jahre Lumpengeschichten

Seit einem Vierteljahrhundert sitzt Edith Juchler tagein, taugaus an ihrem Webstuhl – in Socken. «Schuhe gehen nicht, da fehlt das Gefühl für die Pedale.» Weben ist Hand-, Fussund Kopfarbeit. Die Mittsechzigerin, die meist Schwarz trägt, fertigt an dem mannshohen Webstuhl, einer Fast-Antiquität der früheren Firma Arm aus dem Emmental, Textilien in heiterer Farbenpracht. Aus dem Gestell wachsen im Schneckentempo – Weben ist eine Geduldsübung – Stoffe aus Bio-Baumwolle und -Leinen in allen Farben des Regenbogens. Als Berufshandweberin und gelernte Textilverkäuferin hat sie einen siebten Sinn für Farben und Harmonie entwickelt. Ihr Material bezieht sie bei Zürcher-Stalder in Lyssach BE, «beste Qualität, weitgehend in der Schweiz gefärbt», darauf legt sie grossen Wert. Zweimal jährlich besorgt sie sich da je rund hundert Kilo Fäden auf Spulen. «Im Garnlager fühle ich mich wie ein Kind in der Confiserie – ich kann mich dann kaum bremsen!»

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Auf dem fast antiken Webstuhl von Edith Juchler entstehen die farbenfrohen Tücher aus Waffel-Piqué.

Véronique Hoegger

Aus ihren Webstoffen fertigt Juchler saugfähige Tücher im Waffelpiqué fürs Gesicht oder fürs Geschirr und grössere für die Sauna. Glatte Webstoffe werden zu Schürzen, Gürteln, Tischsets und Bändern weiterverarbeitet. Der Webstuhl aus Massivholz erlaubt eine maximale Breite von 1,5 Metern. Zusammen mit der Sattlerin Erika Stauffer aus Küsnacht am Rigi – einer der wenigen Frauen in diesem Gewerbe – entwirft Edith Juchler Portemonnaies, Shopper, Weekender. Farben und Ausrüstung bestimmt die Kundschaft nach Wunsch. Im Atelierladen an der Berglistrasse 38 im Luzerner Gütsch-Quartier, den sie sich mit der Modedesignerin Manusha teilt, sind die Unikate zu sehen und zu kaufen. Ebenso im Traces Concept Store in Luzern. Auf Bestellung webt Juchler nach Kundinnenwunsch Stoffe für Kleider oder die Wohnung.

Das zarte, rhythmische Klacken und Klimpern des Webstuhls erfüllt den Raum, wenn Edith Juchler am Arbeitsplatz sitzt und webt. «Für mich ist es auch Meditation», meint sie. Allein im Atelier höre sie aber meist Radio 3fach, «Electro-Sound! Richtig laut. Das beschwingt mich.»

Zudiener der verrückten Welt

Wer kennt sie nicht, die mit Swarovski-Kristallen besetzten und die Laufstege zierenden Stoffe, Prinzessinnenträumen gleich? Sie beruhen auf einer Erfindung von Lisbeth und Robert Schlaepfer, Letzterer der Sohn des Gründers der gleichnamigen Firma Jakob Schlaepfer. Das Paar hat in zweiter Generation Mitte der 1940er-Jahre das Traditionsunternehmen modernisiert. Seither wird in St. Gallen Innovation vorangetrieben, heute unter der Leitung von Fabio Di Silvio, Geschäftsführer der Jakob Schlaepfer AG, die 2016 als Business Unit in die Forster-Rohner-Gruppe integriert wurde. Die Herstellerin hochwertiger Textilien beliefert internationale Couture-Boutiquen und Luxushäuser.

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Bei der Jakob Schlaepfer AG liegt gemäss Geschäftsführer Fabio Di Silvio der Fokus bei der Produktentwicklung. Geschickte Hände erschaffen jede Saison eine Fülle unterschiedlichster Stoffe.

Véronique Hoegger

50 Prozent der Produkte müssen industrialisierbar sein, auch solche mit dem Hauptfokus Pailletten, kommen doch Produktionsaufträge von bis zu 3000 Metern desselben Artikels rein, «das läge in Handarbeit nicht drin», erklärt Di Silvio. Nichtsdestotrotz wird im St. Galler-Hauptsitz nach wie vor tonnenweise in Handarbeit erstellt: eigene Stoffkreationen nebst Aufträgen der Luxushäuser. Es ist der technisch ausgeklügelte Nouveauté-Duktus, der die Charakteristiken aufgreift, die überraschen und auf dem Markt beeindrucken. Das funktioniert, weil bei der vielschichtigen Firma der Verkauf in der Kollektionsgestaltung nicht involviert ist. Dieser Freiraum im Atelier führt zu neuen Ästhetik- oder Materialkombinationen – und zu Aussagen von den Designschaffenden wie: «Kitsch ist gut» oder auch «Machen wirs ein bisschen trashiger». Und schliesslich zu den hochwertigen Stoffen, die in die ganze Welt verschifft werden.

Auf drei Techniken hat sich das Unternehmen spezialisiert. Dazu gehören der klassische Textildruck sowie Stickereien und Composé-Stoffe. Die Palette dabei ist enorm, von flachgestickten Pailletten und Superposé mit aufgesetzten Elementen über die St. Galler Spitze Guipure und Laser-Applikationen bis hin zu handgemachter 3D-Oberflächengestaltung und flüssigem Silikon, das als 3D-Druck aufgetragen wird, findet sich von Tradition bis zu radikaler Innovation alles textil Denkbare. Darauf ist Di Silvio stolz, ebenso darauf, dass er «das Familienerbe mit einem ganz jungen Team in die Zukunft führen darf – als Zudiener der verrückten Welt».

Anita Lehmeier, Journalistin GaultMillau-Channel
Anita Lehmeierlebt in der urchigen Innerschweiz – wegen der Nähe zur Natur, den tüchtigen Bauern, den besten Käsern und den Landeiern.Mehr erfahren
Noémie Schwaller
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Von Anita Lehmeier und Noémie Schwaller am 7. April 2024 - 07:30 Uhr