Montagmorgen, 8 Uhr. Kind 2 ist soeben abgerauscht ins Klassenlager. Eine ganze Woche ohne mein Nesthäkchen. Mein Herz weint - oder auch nicht. Im Gegenteil: Es macht Freudensprünge! Aber das darf man ja nicht mal denken. Und öffentlich zugeben schon gar nicht. Ich tus jetzt trotzdem. Schwarz auf Weiss: Du weisst, Kind, ich liebe dich mehr als alles andere auf der Welt - okay, deine Schwester, schöne Schuhe und Penne Arrabiata sind etwa auf gleicher Stufe -, aber im Moment bin ich grad echt froh, dass ich dich fünf Tage lang weder sehen noch hören muss.
Ich denke, du bist mit mir einig, dass das vergangene Wochenende ein Desaster war. Und ich gebs dir echt gern nochmal schriftlich und deutlich: Ich. Kann. Verdammtnochmal. Nichts. Dafür. Dass. Du. Dein. Handy. Verloren. Hast. Punkt. Hab ich nicht versucht, deines mit meinem Handy zu Orten? Hab ich. Ist halt schwierig, wenn man Bluetooth ausgeschalten hat. Bin ich nicht in die Badi, um nachzufragen? Bin ich. Sogar zweimal. Hab ich dir nicht mein altes Handy gegeben, damit du all deine Games aus der Cloud laden kannst? Hab ich. Was also gab es für einen Grund, dass du dich das ganze Wochenende verhalten hast als wäre ich Schuld an deiner Misere? Keinen einzigen.
«Nun denn, Kind, das Leben muss trotz der grössten vorstellbaren Katastrophen weitergehen. Sprich, du musst für dieses Klassenlager packen.»
Ich hätte echt nicht gedacht, dass stundenlanges, demonstratives Auf-dem-Bett-liegen-und-die-Decke-anstarren einen dermassen nerven kann. Unterbrochen durch regelmässiges Gejammer: «Ich kann doch nichts dafür». (Ja wer denn sonst????) Nun denn, Kind, das Leben muss trotz der grössten vorstellbaren Katastrophen weitergehen. Sprich, du musst für dieses Klassenlager packen. «Wann gedenkst du, das zu tun?» Schweigen. «Soll ich dir helfen?» Schweigen. «Soll ich für dich packen?» - «Ja.» Warum auch nicht, schliesslich bin ich ja Schuld, nicht wahr. Sozusagen an allem.
Ich packe also des Kindes Koffer. Verstaue alles, bis auf den Schlafsack, welcher bis vor Kurzem noch im Zimmer von Kind 2 war. Jetzt ist er verschwunden. Auf mysteriöse Art und Weise. «Ich hab keine Ahnung.» - «Hast du halt keinen Schlafsack.» - «Mir doch egal.» Ich hoffe, ich stosse auf ein bisschen Verständnis, dass ich es nicht ganz so übel finde, als ich am Montagmorgen das Kind los bin. Selbstverständlich rufe ich trotzdem als erstes beim Handy-Anbieter unserer Wahl an, lasse seine Simcard sperren und bestelle eine neue.
«Gehts dir gut? Hast du Spass? Du leihst dir ein Handy,falls irgendwas ist, gell? Hast du kalt?»
Am Mittwochmittag - das Kind ist mittlerweile seit exakt 52 Stunden im Klassenlager, und ich habe noch nichts gehört - schreibe ich ihm ein E-Mail. Anrufen kann ich ja nicht. Gehts dir gut? Hast du Spass? Du leihst dir ein Handy,falls irgendwas ist, gell? Hast du kalt? (Ich hab ihm eine Wolldecke eingepackt anstelle des verschwundenen Schlafsackes). Ich höre nichts! Bis am Freitag um 15 Uhr - 87 Stunden nach seinem Aufbruch! Kind 2 ruft vom Handy eines Freundes an: «Kannst du mich im Schuhlhaus abholen?» Natürlich kann ich. Im Auto sprudelt es nur so aus dem Kind raus, Velotour und Seilpark und nächtliche Exkursionen. «Deine neue Simcard ist übrigens schon hier», sage ich stolz. «Ah. Okay. Können wir auch mal in den Seilpark? Der ist echt cool!»