Vor 20 Jahren hat die Stiftung Pro Juventute in der Schweiz die Notrufnummer 147 für Kinder und Jugendliche in Betrieb genommen. Die Hotline gibts immer noch. Sie verzeichnet mehr als 30’000 Anrufe pro Jahr - da sind Chat-, SMS- und Email-Anfragen noch nicht enthalten. Wer sitzt am anderen Ende der Leitung? Und wieso leiten die Experten nicht sofort offizielle Schritte ein, wenn sich ein Kind meldet, das Missbrauch oder Gewalt erlebt? Aus gutem Grund, erklärt Thomas Brunner, Abteilungsleiter Beratung und Unterstützung, im Interview.
«Die Anrufe häufen sich in den Abendstunden.»
Thomas Brunner, Abteilungsleiter Beratung und Unterstützung bei Pro Juventute
Thomas Brunner, bei 147 gehen täglich um die 100 Anrufe ein. Wer wählt die Nummer?
Unsere Zielgruppe liegt bei den 12- bis 24-Jährigen. Es sind Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die jemanden brauchen, der zuhört. Das tun wir 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr, mit drei Teams à jeweils 20 Fachleuten aus Psychologie und Sozialarbeit, die in der Deutsch- und Westschweiz, sowie im Tessin stationiert sind.
Advent und Jahresende stehen vor der Tür? Häufen sich da die Anfragen?
Wir stellen unabhängig von der Jahreszeit fest, dass sich die Anrufe jeweils in den Abendstunden häufen. Was logisch erscheint, wenn man bedenkt, dass Kinder und Jugendliche tagsüber mit Schule, Lehre oder Studium beschäftigt sind.
Aus welchen Gründen wählen Kinder und Jugendliche die 147?
Wenn man die Kontaktaufnahmen übers Internet dazu zählt, sind es häufig Beziehungsthemen, Liebeskummer, Freundschaftskrisen, familiäre Konflikte, aber auch der Umgang mit Leistungsdruck. Nimmt man nur die Anrufe, ist der häufigste Grund ein persönliches Problem. Das reicht von Schwierigkeiten mit dem Selbstvertrauen, dem Selbstbild oder dem eigenen Körper bis hin zu suizidalen Gedanken.
«Wir schreiten grundsätzlich nicht aktiv ein.»
Thomas Brunner, Abteilungsleiter Beratung und Unterstützung bei Pro Juventute
Bleibt es immer beim Zuhören?
Meist ja. Unsere Aufgabe besteht darin, eine Erstberatung zu machen. Bei uns müssen Ratsuchende nicht einmal ihren Namen nennen. Wir haben ein offenes Ohr und versuchen, stärkend und normalisierend zu wirken sowie die Ratsuchenden bei der Lösungsfindung zu begleiten. Wir schreiten grundsätzlich nicht aktiv ein.
Auch nicht, wenn ein Kind von Missbrauch oder Gewalt erzählt?
Unser wichtigstes Credo ist: Wir sind vertraulich. Wenn ein Kind Hilfe sucht, stehen wir an seiner Seite und tun nichts, ohne sein Einverständnis. Wir klären es über seine Rechte auf. Und schlagen ihm Möglichkeiten vor, sich Hilfe zu holen. Aber es behält stets das Steuer in der Hand. Das ist uns sehr wichtig. Es ist unsere grosse Stärke.
Aus welchem Grund?
Wenn Kinder Opfer sind, kann sich ihr Leidensdruck durch einen unbedachten Helferdrang verschlimmern.
«Die Hilfesuchenden bleiben, wenn sie dies wollen, anonym.»
Thomas Brunner, Abteilungsleiter Beratung und Unterstützung bei Pro Juventute
Gibt es Ausnahmen, in denen Sie einschreiten?
Ja. Wenn ein Anrufer oder eine Anruferin konkrete suizidale Absichten äussert oder sich in einer akuten Bedrohungssituation befindet. Dann schalten wir die Polizei ein. Das passiert 40 bis 100 Mal pro Jahr. In diesen Fällen fragen wir das Kind, uns seine Adresse oder weitere Daten anzugeben.
Sammeln Sie diese nicht sowieso?
Bei uns wird nur der Zeitpunkt des Anrufs und der Grund dafür erfasst. Für die Statistik. Die Hilfesuchenden bleiben, wenn sie dies wollen, anonym.