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  4. Wie gefährlich ist Corona für Kinder? Kinderarzt übers Immunsystem
Kinderarzt erklärt

Das passiert, wenn Kinder sich mit Corona infizieren

Händewaschen ist zwar wichtig, um die Corona-Pandemie zu stoppen. Eltern sollten deswegen aber kein übertriebenes Bedürfnis nach Keimfreiheit entwickeln. Das würde ihrem Immunsystem schaden, sagt Kinderarzt Dr. Raffael Guggenheim im Interview.

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Kind im Garten

Die Gartensaison beginnt und damit das Training für das kindliche Immunsystem.

Getty Images

Dr. Guggenheim, viele Eltern haben das Gefühl, ihre kleinen Kinder seien zu oft am kränkeln. Wie viele Infekte pro Jahr sind normal?
Das ist sehr unterschiedlich. Einige Kinder sind häufig sichtbar leicht krank, andere kaum. Grundsätzlich ist es normal, in den Wintermonaten bis zu einem viralen Infekt pro Monat zu haben. Wir reden hier von Schnupfen, Husten, Durchfall oder Fieber. Wenn ein Kind aber fix immer wieder über gleiche Symptome wie etwa Ohrenschmerzen klagt, ist das sicher auffallend. Bis ins Alter von sechs Jahren hat ein Kind Kontakt mit mehreren hundert Viren, meistens ohne Symptome zu entwickeln. Diese Infekte sind wichtig, denn nur so kann das Immunsystem lernen, Viren zu erkennen und sich gegen sie zu wehren.

Heisst das, bei Kindern, die praktisch nie krank werden, läuft etwas falsch?
Nein, auch diese haben Kontakt mit diesen Viren. Das läuft aber meist unbemerkt ab. Sie müssen nicht jedes Mal Symptome zeigen.

«Kindern erkläre ich, dass das Immunsystem gerne Paintball spielt»

Dr. Raffael Guggenheim

Gerade beim aktuell grassierenden Coronavirus sagt man, Kinder stecken es viel besser weg als ältere Personen. Wäre es quasi wünschenswert für das Immunsystem, diesen Erreger in jungen Jahren schon kennenzulernen, damit er später weniger Schaden anrichten kann?
Sicherlich schon, denn dann sind wir in der Lernphase.  Ein ausgebildetes also erwachsenes Immunsystem, welches einen Grossteil der Virengruppen kennt, kann dann besser mit Erkrankungen umgehen. Das SARS-CoV-19–Virus betrifft Erwachsene und Kinder. Die Symptome sind aber bei Erwachsenen insbesondere mit Begleiterkrankungen schwerer, weil das Virus in dieser Form dem Immunsystem nicht bekannt ist und es dieses also überrascht.

Es spielt also quasi Versteckis mit unserem Immunsystem?
Tatsächlich erkläre ich den Kindern unser Immunsystem oft als Spiel. Gerne nehme ich dazu Paintball zu Hilfe. Wenn ein bekanntes Virus auftaucht, identifiziert das kindliche Immunsystem den Erreger und markiert ihn im übertragenen Sinn mit einer Farbe, sprich dem Antikörper. So können dann andere Zellen, sogenannte Fresszellen, den Eindringling schneller erkennen und bekämpfen. Da beim SARS-CoV-19 noch keine solche Antikörper vorhanden sind, kann es sich zunächst unbemerkt vermehren und wird erst später vom Immunsystem entdeckt.

«In der heutigen Zeit ist es dem Immunsystem oft langweilig»

Dr. Raffael Guggenheim

Was würde mit dem Immunsystem passieren, wenn es nie mit Keimen in Berührung käme?
Es würde nicht ausgebildet und der Organismus wäre akut gefährdet. Er würde auf eine Infektion nicht oder zu spät reagieren. Wichtig ist: Das Immunsystem funktioniert nicht ohne Kontakt mit der Umwelt.

Heutzutage dürfen sich viele Kinder kaum noch schmutzig machen. Wird diese Generation das früher oder später zu spüren kriegen?  
Wir spüren es schon. In der heutigen Zeit ist es dem Immunsystem oft langweilig. Eine regelmässige Stimulation mit einer Vielfalt von Keimen fehlt gerade Kindern, die in der Stadt aufwachsen. Ein Beispiel sind die fehlenden Wurmerkrankungen, was früher häufig der Fall war. Man nimmt daher an, dass das Immunsystem sich eine Beschäftigung sucht. Dies zeigt sich mit einer vermehrten Sensibilisierung auf diverse normale Allergene, wie Nahrungsmittel, Pollen oder Hausstaubmilben. Diverse Studien, welche Stadt- mit Landkindern verglichen, zeigen, dass Stadtkinder häufiger an Allergien leiden.

Also sollen wir jetzt alle aufs Land zügeln mit unseren Kindern?
Das wiederum wäre immunologisch gesehen ein Fehler. Wenn ein Kind im städtischen Umfeld aufgewachsen ist, so wird sein Immunsystem schon sensibilisiert und würde in der neuen allergenreicheren Umgebung verstärkt reagieren.

«Übertriebene Hygiene führt zu vermehrter Sensibilisierung»

Wie sieht denn das optimale Lernumfeld für das Immunsystem aus?
Eigentlich ist es einfach: Ein gesunder Umgang mit der Natur ist wichtig! Dreck ist nicht per se schlecht, übertriebene Hygiene führt zu vermehrter Sensibilisierung. Kontakt mit anderen Kindern auf Spielplatz, Spielgruppe oder Krippe ist essentiell. Wie bereits gesagt: Unserem Immunsystem geht es ohne Kontakt mit der Umwelt schlechter. Um es zu stärken, gibt es auch Massnahmen und gute pflanzliche Mittel. Dazu gehört, dass nicht jedes Fieber zwingend sofort gesenkt werden muss, da das Immunsystem mit dem Fieber getriggert wird, eine gute Vitamin D Prophylaxe bis mindestens zum 3. Geburtstag und die Durchführung der Impfungen. Ja und natürlich das Aufwachsen mit Geschwistern...

Lassen sich die ersten Jahre des Immunsystemtrainings denn nie mehr aufholen, wenn man sie verpasst hat?
Man kann das eigentlich nicht verpassen. Kinder welche im ersten Lebensjahr vermehrt isoliert und «steril» erzogen wurden, zeigen vermehrte Symptome, wenn sie in die Krippe kommen oder erst im Kindergarten sozialisiert werden. Auch Impfungen sind eine Form des Trainings für das Immunsystem, können aber die Umwelt nie ersetzen.

«Wenn Eltern den Nuggi immer abwaschen oder gar abkochen, nur weil er zu Boden gefallen ist, ist das absurd»

Dr. Raffael Guggenheim

Wo sind viele Eltern zu hygienisch oder zu vorsichtig, wenn es um Keime geht?
Wenn Eltern den Nuggi immer abwaschen oder gar abkochen, nur weil er zu Boden gefallen ist, ist das absurd. Allgemein erlebe ich, dass viele Eltern bei Kindern in den ersten Lebensjahren zu vorsichtig sind, was Kontakt mit Oberflächen, Tieren oder eben Natur betrifft. In der Schweiz ist es eigentlich nicht nötig, das Wasser für den Schoppen abzukochen. Trotzdem kenne ich kaum eine Mutter, die das nicht macht.  

Wo ist Hygiene hingegen absolut wichtig?
Sicher ist es im Umgang mit Sekreten bei kranken Kindern (Nasenschleim etc.), nach dem Windelwechseln, auf dem WC und auch nach Kontakt mit Erde, Sand und möglichem Tierkot angebracht, die Hände zu waschen. Auf Reisen ins Ausland sind ebenfalls erweiterte Massnahmen sinnvoll. Und in Zeiten besonderer Infektionsgefahr, wie aktuell bei der Coronavirus-Epidemie sollte man sich an die empfohlenen, erweiterten Hygienemassnahmen halten.

Raffael Guggenheim

Dr. med. Raffael Guggenheim, Kinderarzt in Zürich, Vater von vier Kindern und Vorstandsmitglied Kinderärzte Schweiz.

ZVG
Sylvie Kempa
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Von Sylvie Kempa am 3. April 2020 - 17:09 Uhr