Herr Urech, wie sollten Eltern niemals reagieren, wenn ihr Kind sich rassistisch äussert?
Wenn Kinder rassistische Sachen heimbringen, etwa behauptet, dass diese oder jene stinken, dann schürt natürlich erst einmal Angst. Man will ja nicht, dass die Nachbarn oder Freunde solche Äusserungen mitkriegen, also werden sie zum Tabu erklärt.
Was ist daran falsch?
Die Schweizer Kultur ist so höflich und anständig. Das kommt uns in den Weg, wenn wir Rassismus abbauen wollen. Denn nur weil man etwas nicht sagt, heisst es noch lange nicht, dass man es nicht denkt. Ein Tabu hindert uns daran, eine Situation zu analysieren und zu verbessern. Wenn wir uns als Eltern für die fremdenfeindlichen oder rassistischen Äusserungen unserer Kinder schämen, dann bleiben wir oft sprachlos oder geben unseren Missmut zum Ausdruck und dabei verpassen wir die Chance, unseren Kindern zuzuhören und mehr darüber zu erfahren, was sie gerade beschäftigt.
Verschiedene Lernmaterialien helfen Kindern dabei, einen toleranten und offenen Umgang zu pflegen.
Die Toleranz-Box der Stiftung SET (Stiftung Erziehung zur Toleranz) enthält vielfältige Materialien (Stoffpuppe, Duplofiguren, Hauttonfarbstifte, Erzählkarten, Geschichtenwürfel, Liederbuch und Bilderbücher) sowie Programmideen zur aktiven Auseinandersetzung mit dem Thema Toleranz für Kitas, Familienzentren und Spielgruppen. Das Material ist für Fachpersonen zusammengestellt, jedoch auch für interessierte Privatpersonen erhältlich.
Was ist eigentlich Rassismus? Und Antisemitismus? Und was bedeutet «Hate Speach»? Der Infoflyer «Was tun bei Rassismus und Antisemitismus an Schulen» der Stiftung GRA klärt nicht nur auf, sondern bietet auch Lösungsansätze und Inputs zur Prävention solcher Vorfälle.
Welche Reaktion wäre also richtig?
Solche Begebenheiten sind doch eine super Gelegenheit, um über Rassismus zu sprechen. Ich empfehle Eltern, statt mit Angst und Panik zu reagieren, einfach tief durchzuatmen und dann zu antworten: Cool, können wir das besprechen. Wo hast du das gehört? Was fühlst du, wenn du so etwas hörst? Offen und echt reagieren und dem Kind zeigen: Zuhause ist ein geschützter Raum. Hier darfst du über alles sprechen, was dich beschäftigt. Du darfst mir alle Fragen stellen und wirst dafür nicht verurteilt. Aber auch eine klare Haltung einnehmen gegen Rassismus. Genau gleich, wie man das auch gegen Gewalt tun würde. Wichtig für Eltern bleibt die Reihenfolge: Wir interessieren uns und hören den Kindern zu und wir nehmen Stellung für eine antirassistische Einstellung – alle Menschen sind gleichwertig.
In älteren Kinderbüchern werden häufig Ausdrücke verwendet, die wir heute als rassistisch einstufen. Also empfehlen Sie Eltern nicht, diese Bücher aus dem Kinderzimmer zu entfernen?
Wieso markiert man solche Wörter nicht einfach und schaut nach, woher der Begriff kommt. Wie er früher verwendet wurde und heute wahrgenommen wird. Und wieso sich das verändert hat. Man könnte auch neue Begriffe dafür erfinden, die niemanden verletzen. Am Ende ist damit mehr erreicht als mit einem Tabu. Ich höre allerdings gerade von einigen mir befreundeten Familien, dass die Initiative, veraltete Bilderbücher zu entsorgen und belastete Begriffe nicht mehr zu verwenden momentan von Kinder und Jugendliche kommt. Sie sind empfindsam für Veränderungen und sie spüren, dass sich gesellschaftlich gerade etwas bewegt, Menschen auf die Strasse gehen und sich Sportler und Polizisten in den USA runterknien, um gegen Rassismus zu demonstrieren. Hier können wir als Eltern auch von unseren Kindern lernen und uns gemeinsam darauf einigen, auf welche rassistischen Begriffe und Lieder wir verzichten wollen.
«Wir müssen unseren Kindern vermitteln, dass alle Menschen gleich viel Wert haben.»
Urs Urech, Geschäftsleiter der Stiftung SET
Welche weiteren Tipps haben Sie für Eltern, die ihre Kinder zu toleranten und offenen Menschen erziehen wollen?
Grundsätzlich müssen wir unseren Kindern vermitteln, dass alle Menschen gleich viel Wert haben. Das ist kein Satz, den man seinen Kindern eintrichtert, sondern eine Haltung, die man ihnen vorlebt.
Wie tut man das am besten?
Indem man Vielfalt pflegt. Das bedeutet, dass Eltern aktiv versuchen, Multikulturalität zu den Kindern zu bringen. Kontakt suchen, zu den Nachbarn, die einen andere Hautfarbe haben. Oder auch eine andere Familienform, Sprache, andere Kleidung, anderes Essen. Wenn Kinder miterleben, dass ihre Eltern aktive Beziehungen pflegen, ist das gelebte Vielfalt. Und der stärkste Widerspruch zu Rassismus sind gelebte Beziehungen zu Menschen, die anders aussehen, denken oder reden als wir. Es geht nicht darum, mit allen eine enge Freundschaft zu pflegen. Aber alle Menschen freundlich zu grüssen und über alle gut zu reden. Und man kann die Realität im Kinderzimmer abbilden.
«Wenn im Quartier Menschen asiatischer und afrikanischer Herkunft leben, kann man doch auch die Puppenecke so einrichten.»
Urs Urech, Geschäftsleiter der Stiftung SET
Inwiefern?
Wenn im Quartier Menschen asiatischer und afrikanischer Herkunft leben, kann man doch auch die Puppenecke so einrichten, dass alle Hautfarben vertreten sind. Bilderbücher, die Menschen aus verschiedenen Kulturen abbilden, sind ebenfalls hilfreich, um den Vorteil an der Heterogenität zu sehen und Geschichten aus anderen Ländern und über andere Lebensformen sind inspirierend für Kinder. Heute gibt es dazu tolle Kinderbücher, die andere Kulturen einfühlsam vermitteln und nicht über andere Kulturen berichten und diese einseitig und verzerrt darstellen.
Diversität im Bücherregal: Der Kinderbuchverlag Baobab fördert interkulturelle Lesekompetenz und grenzüberschreitende Projekte. Der Verlag vertreibt mehr als 80 Bilderbücher, Kindergeschichten und Jugendromane aus 35 Ländern in deutscher Übersetzung.
Das heisst, Verschiedenheiten wahrzunehmen und zu besprechen ist ok?
Natürlich. Menschen haben verschiedene Hautfarben, die darf man auch sehen. Menschen sprechen unterschiedliche Sprachen und pflegen unterschiedliche Traditionen in der Küche, in der Musik und im Gebet, das macht ja die Besuche und Begegnungen mit Menschen aus anderen Familien so interessant. Gleichzeitig erleben Kinder dann im Kontakt mit Menschen aus anderen Kulturen, wie viele Gemeinsamkeiten es gibt. Auch die Eltern einer anderen Familie sorgen sich um ihre Kinder, auch in anderen Familien wird gemeinsam gegessen, gesungen, gebetet, gespielt, gestritten und sich versöhnt. Die Gemeinsamkeiten zu erleben, ist prägend für Kinder. Eltern, die ihren Kindern Kontakte und Begegnungen mit Menschen aus anderen Familien, Kulturen, Religionen ermöglichen und sie darin begleiten, erziehen offene, interessierte und vertrauensvolle Kinder.