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Sicherheit durch Risiko

Wie wir Kinder sicher durch Mutproben leiten

Sie sind der Horror vieler Eltern, aber Kinder lieben sie: Mutproben. Sich zu messen und zu beweisen gehört zur kindlichen Entwicklung dazu. Zwei Mutproben-Erprobte erklären, weswegen Mütter und Väter mit Tabus das Gegenteil von Sicherheit bewirken. Und wie sie stattdessen vorgehen können, um ihre Kinder sicher durch risikoreiche Herausforderungen zu leiten.

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Girl on tightrope in adventure playground.
Getty Images

Und plötzlich stand Simon ganz allein im Wald. Mitten in der Nacht. Nur er und eine Fackel. Eine beängstigende Situation für einen 12-Jährigen. Auch wenn er wusste: «Das ist geplant. Meine Freunde und die Pfadileiter stehen alle um mich herum in den Büschen versteckt.» Gesehen hat er niemanden. Aber der Bub fasste sich ein Herz und ging weiter. Er überstand einen mehrpostigen Parcours an dessen Ende er auf seinen Pfadinamen getauft wurde: Luchs.

Luchs heisst im richtigen Leben Simon Radlinger, ist heute 25 Jahre alt und Abteilungsleiter der Pfadi Frisco in Zollikofen BE. In dieser Funktion hat er es immer wieder mit Mutproben zu tun. Denn die gehören zu den Pfadfindern wie das Amen in die Kirche. Als grösste Jugendorganisation des Landes bezieht die Pfadibewegung Schweiz klar Stellung: «Wir sind überzeugt, dass Kinder und Jugendliche einen sinnvollen Umgang mit  Risiko nur erlernen können, wenn sie bewusst akzeptiertes Risiko eingehen», steht im Haltungspapier zum Umgang mit Risiko.

Oberste Pfadfinderin sagt ja zum Risiko

Hinter dieser Aussage steht auch Barbara «Fiffan» Blanc, 48, Präsidentin des Verbandsder Pfadibewegung Schweiz. Sie ist eine Expertin, wenn es darum geht, Kindern Risikokompetenz zu vermitteln. Nicht nur in ihrer Funktion als langjährige und engagierte Pfadi, sondern auch, weil sie Mutter zweier Kinder im Alter von zehn und zwölf Jahren ist. «Aber es sind Mädchen», sagt sie vor dem Interview. Wir haken nach:

Frau Blanc, sind Mädchen denn weniger Mutproben-begeistert als Buben?
Mutproben machen alle Kinder. Aber bei den Mädchen geht es dabei eher um Zwischenmenschliches. Die Buben gehen das Ganze oft körperlicher an. Oder, so wie wir es in der letzten Zeit in den Medien gesehen haben, auch immer technischer. Unangebrachte Inhalte per Whatsapp-Chat zu versenden, ist ein Beispiel.

Heisst das, die Mutproben haben sich in der vergangenen Generation verändert?
Da hat sich einiges bewegt, ja. Nicht nur, was die neuen Medien angeht. Auch Extremsport wie etwa Bungee-Jumpen oder Canyoning hat die heutige Elterngeneration noch nicht gemacht.

Diese Dinge finden jedoch meist in einem gesicherten Rahmen statt. Sind Mutproben heutzutage also weniger gefährlich als früher?
Man kann sagen, dass viele Dinge auch einfacher wurden. Wer ein grosses Feuer machen will, kann in einer App nachschauen, wie der Wind weht und genau planen, wie er vorgehen muss, um weder Natur noch Tier zu schaden. Genau darauf setzen wir in der Pfadi: Abenteuer sind möglich, wenn die Risikokompetenz vorhanden ist. Es liegt an den Eltern und Erziehungsberechtigten, diese den Kindern zu vermitteln.

«Das Vermitteln von Risiko-Kompetenz besteht aus zwei Faktoren: Reden und Machen.»

Barbara Blanc, Präsidentin Pfadibewegung Schweiz

Wie tut man dies am besten?
Das Vermitteln von Risikokompetenz besteht aus zwei Komponenten: Reden und Machen. Einerseits können wir mit unseren Kindern darüber sprechen, wo wir Gefahren sehen. Aber auch zuhören, wenn die Kinder uns erklären, weswegen sie sich eine Herausforderung trotzdem zutrauen. Andererseits können wir ganz bewusst teilnehmen. Etwa, wenn ein Kind vom Balkon klettern will. Anstatt die Idee mit einem Nein zum Tabu zu erklären, könnten wir einen Lösungsansatz anbieten. Also vorleben, wie wir mit unserer Lebenserfahrung so eine Idee umsetzen würde.

Wie sähe denn Ihr Lösungsansatz aus?
Es kommt natürlich auf die Umstände an. Denkbar wäre, dass man dem Kind erlaubt, das auszuprobieren, aber nur mit einem Gstältli gesichert und im Beisein von Erwachsenen. Zum Erwerb von Risiko-Kompetenz gehört das Erleben dazu. Noch ein Beispiel: Wenn ein Kind nie einen kleinen Kübel Wasser aus einem Fluss geschöpft hat, kann es sich nicht vorstellen, dass ein grosser Kübel vielleicht zu viel Zug entwickelt und es reinreisst. Das sind physikalische Gesetzmässigkeiten, die vielleicht ein angehender Erwachsener rational begreift, aber ein Kind muss ein Gefühl dafür entwickeln. Wenn wir es im geschützten Rahmen üben lassen, sich an fliessenden Gewässern sicher zu verhalten, lernt es, das Risiko richtig einzuschätzen. Und kann unterscheiden zwischen akzeptiertem und nicht akzeptiertem Risiko.

Wo verläuft die Grenze zwischen akzeptiertem und nicht akzeptiertem Risiko?
Diese Grenze kann durchaus variabel sein. Sie verläuft dort, wo der oder die Betroffene das Risiko nicht mehr selber handhaben kann. Bei einer sicheren Schwimmerin ist die Grenze an einem anderen Ort als bei einer unsicheren Schwimmerin. Auch die eigenen Fähigkeiten einschätzen zu können, ist etwas, das Kinder schon von klein an lernen und das auch in der Pfadi gefördert wird.

«Wenn man immer vor allem geschützt ist, macht man keine Erfahrungen und lernt nicht dazu.»

Barbara Blanc, Präsidentin Pfadibewegung Schweiz

Konkret heisst das, zu viel Sicherheit macht die Welt gefährlicher?
Das stimmt tatsächlich: Denn wenn man immer vor allem geschützt ist, macht man keine Erfahrungen und lernt nicht dazu. Somit erreicht man in heiklen Situationen schneller die vorhin angesprochene Grenze zwischen akzeptiertem und nicht akzeptiertem Risiko.  Ein Beispiel hier sind die Berge: Früher kam man ohne gutes Schuhwerk gar nicht auf einen Gletscher, heute fährt die Gondel hoch und jeder kann sich mit Turnschuhen auf den Gletscher stellen, respektive sich ohne Vorkenntnisse einer Gefahr aussetzen.

Weswegen messen sich Kinder eigentlich so gerne mit Mutproben?
Da geht es um Identifikation und darum, sich selber zu finden. Das ist typisch entwicklungspsychologisch. Man möchte sein eigenes Ich entdecken und das tut man, indem man sich vergleicht. Das ist Bestandteil der menschlichen Kultur und deshalb auch Bestandteil der pädagogischen Grundlagen in der Pfadi. Und ich glaube, das ist enorm wichtig.

Barbara Blanc ist oberste Pfadfinderin der Schweiz, Ennetbaden, 14. November 2014.

Barbara Blanc ist Präsidentin der Pfadibewegung Schweiz.

Alex Spichale
Ideen für Mutproben mit überschaubarem Risiko

Eine Mutprobe muss nicht zwingend körperlicher Natur sein. Es geht auch ohne Muskelkraft und Fitness. Sondern mit Grips und einer Portion Überwindung. Gerne stellen wir euch mit Hilfe und Ideen von Simon Radlinger unsere Top 3 der Mutproben vor – zum zuhause nachmachen!

1. Zaubertrank

child experiments with chemicals and liquid outside

In der Pfadi auch Tauftrank genannt. Das ist ein Getränkt, welches aus beliebigen ungiftigen Zutaten wild zusammengemischt wird. Die Mutprobe besteht, wer sich traut, ein Glas davon zu trinken ohne zu wissen, was alles drin ist. «Beliebte Zutaten sind Essig und Kaffeesatz», verrät Luchs. Uns tschudderets nur schon beim Drandenken.

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2. Orientierungslauf

Family is hiking

Aber mal ganz anders! Etwas grössere Kindern oder Jugendliche können sich in der Natur aussetzen lassen und versuchen, sich innerhalb einer abgemachten Zeitspanne und nur mit einem Kompass ausgerüstet an einen Punkt X durchschlagen. Natürlich tut man dies nur in einer Gruppe und das Notfalltelefon kommt mit. Um ehrlich zu sein tönt das so abenteuerlich, das wäre auch mal ein toller Familienausflug!

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3. Freundlichkeit

Group of happy kids having fun while driving in shuttle bus.

Gerade für schüchterne Kinder ist diese Mutprobe echt happig. Aber für das Resultat lohnt sich die Überwindung. Wenn ihr das nächste Mal aus einem Bus oder Tram aussteigt, ruft freundlich: «Einen schönen Tag noch, es war schön mit euch!» Garantiert werden ganz viele Menschen für den Rest des Tages ein Lächeln auf den Lippen tragen.

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Sylvie Kempa
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Von Sylvie Kempa am 4. Oktober 2020 - 08:09 Uhr