Das Boot gleitet aus dem Hafen in Genf, der Motor dröhnt, Bullterrier Luna springt aufgeregt hin und her. Die kleine Billie schläft seelenruhig weiter. Sie ist erst Anfang Juli geboren, doch das Seefahrer-Gen trägt sie wohl in sich. Am 8. November wird ihr Vater Alan Roura, 27, an der Westküste Frankreichs zur Vendée Globe aufbrechen, der gefährlichsten Segelregatta der Welt: alleine einmal um den Globus. Ohne Zwischenstopp, ohne Hilfe. Nach 80 Tagen will der Extremsportler zurück sein – und hat mit Billie nun noch einen Grund mehr, wieder heil anzukommen.
«Reise um die Erde in 80 Tagen» – der Autor des Klassikers, Jules Vernes, schreibt: «Das Meer ist alles. Eine immense Wüste, wo ein Mann nie alleine ist, in dem er fühlen kann, wie das Leben in ihm bebt. Es ist die lebende Unendlichkeit.»
Das Zitat passt zu Roura, der sich auf dem Wasser wohler fühlt als an Land. Doch wie lassen sich der Hang fürs Extreme und ein Familienalltag vereinbaren? «Wir können nicht aufhören zu leben, nur weil wir Segler sind», sagt er nachdenklich. «Aber was wir machen, ist sicher sehr egoistisch. Wir lassen alle zu Hause, um die Welt zu umsegeln und unser Leben zu riskieren – und wofür? Für nichts eigentlich. Nur einer gewinnt.»
Dass Roura nicht wie alle anderen tickt, ist schon klar, als er und Aurélia Mouraud, 32, sich vor sieben Jahren kennenlernen. Sie begleitet als Journalistin eine Atlantik-Überquerung, er segelt. Sie war die «typische Pariserin»: Karriere war ihr wichtig, sie mochte Mode und Make-up – bereiste die Welt aber mit dem Rucksack. «Ich spürte immer, dass da etwas fehlt. Diesen Wunsch nach Freiheit und Abenteuer habe auch ich in mir.»
In Alan Roura findet sie ihr Gegenstück. Bis er zwölf Jahre alt ist, lebt er mit Eltern und Geschwistern auf einem Boot in Genf. Danach segelt die Familie um die Welt, elf Jahre lang. Als Erwachsener feiert Roura schnell Erfolge im Segelsport, startet 2016 als jüngster Teilnehmer an der Vendée Globe. Es ist ein Gemeinschaftsprojekt des Paares und eines ganzen Teams, Aurélia übernimmt Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit.
Zusammen leben und arbeiten ist nicht immer einfach, «aber sie ist mein bester Freund», beschreibt Alan ihre Liebe. Der 27-Jährige scheut sich nicht, seine sensible Seite zu zeigen. Er ist weder brummliger Seebär noch adrenalinsüchtiger Draufgänger. Seine Art ist sanft, sein häufiges Lachen liebenswürdig. «Er ist freundlich, smart, authentisch. Er ist der beste Mensch, den ich kenne», sagt Aurélia. Die ersten Wochen nach Billies Geburt war er zu Hause. «Ich wollte keiner dieser Väter sein, die immer fragen: Welche Creme muss ich benutzen?» Er erwartet, dass es sich anders anfühlt, um die Welt zu segeln, wenn zu Hause das eigene Kind wartet. Aber wie? «Im Moment gibt es mir eher Schub: Ich will noch schneller segeln, um rasch wieder daheim zu sein. Und ich will, dass Billie später stolz auf mich ist.»
Während der 105 Tage auf See bei seiner ersten Vendée Globe schickt er täglich zwei Mails per Satellit: eines an die Medien, eines an Aurélia. Eigentlich mag er die moderne Technik auf dem Schiff nicht, auch wenn sie dazugehört. «Ich kann erklären, wie hoch die Wellen sind und wie es ist, wochenlang allein zu sein. Aber verstehen wird es niemand», sagt Roura.
Die Tage bei sengender Hitze auf Äquatorhöhe, die Stürme, bei denen man sich nur einschliessen und hoffen kann. Zehn Meter hohe Wellen oder nie mehr als eine Stunde Schlaf am Stück. Die vielen Fragen und wenigen Antworten. «Wenn ich jemandem in die Augen blicke, kann ich sagen, ob er die Vendée gesegelt ist oder nicht.» Erklären könne man das nicht. «Wir müssen immer wieder aufs Meer zurück. Es ist wie eine Droge.»
Zwei Jahrzehnte lang war er nie länger als ein paar Monate auf festem Boden. Er wünscht sich ein Heim, doch der Beginn ist kompliziert. Einen Ort zu finden, der ein Zuhause bedeutet. Zu lernen, was zu einem «normalen» Leben an Land gehört. Nun hat die kleine Familie ein Haus in Westfrankreich, «und ich bin glücklich». Hat Aurélia Angst, wenn er auf See ist? «Nein, das ändert ja nichts. Ich vertraue ihm. Er ist der Erste, der zurückkehren möchte, und wird nichts Dummes machen.» Von seinen Konkurrenten – das Durchschnittsalter ist etwa 42 – haben fast alle Kinder. «Familie zu haben, ist etwas Natürliches.» Sollte er nicht zurückkommen, ist alles geregelt. «Wir wissen, dass das möglich ist.» In Zukunft, vielleicht nach der Vendée Globe 2024, wollen
sie zu dritt mal länger segeln. Dann, wenn Billie das Leben auf dem Boot bewusst wahrnimmt. Und die Welt entdecken kann. Die Welt, wie sie nur wenige Menschen so kennen wie Papa Alan.