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  4. 50 Jahre Frauenstimmrecht: Hortensia von Roten, die Tochter von Iris von Roten, erinnert sich an ihre Kindheit
Hortensia von Roten

«Ich merkte, dass meine Mutter aneckt»

In den 1950ern wurde Iris von Roten mit ihren feministischen Forderungen zur Hassfigur. Heute ist sie eine Ikone. Ihre Tochter, Historikerin Hortensia von Roten, erzählt vom Leben mit einer Mutter, die ihrer Zeit voraus war.

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Hortensia von Roten, Tochter von Iris von Roten, Schweizer Frauenrechtlerin, 50 Jahre Frauenstimmrecht, 25. Januar 2021, Zürich

In Hortensia von Rotens Wohnhaus in Zürich hängen Bilder, die ihre Mutter Iris gemalt hat.

Fabienne Bühler

Die Schrift fliegt über das Papier. Kursiv, flach wie ein Schnellzug. Es scheint, die Hand von Iris von Roten könne ihren Gedanken kaum folgen, als sie vor 70 Jahren ihre Forderung nach Gleichstellung von Mann und Frau niederschreibt: im Beruf, in der Liebe, an der Urne.

Hortensia von Roten, Tochter von Iris von Roten, Schweizer Frauenrechtlerin, 50 Jahre Frauenstimmrecht, 25. Januar 2021, Zürich

Das Manuskript des Buches «Frauen im Laufgitter», enthält auch ein Kapitel über Kleidung, welches nie veröffentlicht wurde. Dieses wird nun erstmals in einer Ausstellung im Zürcher Strauhof gezeigt. Mehr dazu in der Info-Box am Ende dieses Artikels.

Fabienne Bühler

Energische Sätze auf vergilbten Blättern – Hortensia von Roten, 68, Historikerin und Tochter der feministischen Pionierin, packt sie in ein Couvert. Am Nachmittag wird das Manuskript abgeholt. Es ist Kernstück der Ausstellung im Zürcher «Strauhof» über Iris von Rotens Buch «Frauen im Laufgitter». Das feministische Manifest erschien 1958 und wurde wegen seines undiplomatischen Tons ausgerechnet von Feministinnen dafür mitverantwortlich gemacht, dass das Frauenstimmrecht an der Urne am 1. Februar 1959 scheiterte.

In ihrer scharfzüngigen Gesellschaftsanalyse prangert die Autorin die Unterdrückung der Frau an und fordert radikal gleiche Rechte, gleichen Lohn, berufliche Selbstbestimmung, Krippen, Aufklärung, freie Liebe. Der erste Satz lautet: «Hier ist das Buch, das ich mit 20 Jahren gerne gelesen hätte, aber nicht fand.»

«Da stand, was meine Mutter jeden Tag lebte und diskutierte.»

Hortensia von Roten über ihre Gedanken, als sie «Frauen im Laufgitter» las

Hortensia von Roten, wann haben Sie «Frauen im Laufgitter» zum ersten Mal gelesen?
Iris schenkte es mir zu meinem 16. Geburtstag. Ganz gelesen habe ich es erst für die Neuauflage, die 1991 nach Iris’ Tod erschien. Da merkte ich, dass ich jedes Wort bereits kannte. Da stand, was meine Mutter jeden Tag lebte und diskutierte.

Sie wohnten nur zeitweise bei Ihren Eltern in Basel.
Es war andersherum. Ich lebte zeitweise nicht bei meinen Eltern.

Aus welchem Grund?
Als Kleinkind verbrachte ich viel Zeit in der Ostschweiz im Umfeld einer verwandten Pädagogenfamilie. Dort hatte ich sechs Kinder um mich.  Als Fünfjährige lernte ich Französisch bei einem Pastorenpaar mit drei Töchtern in Genf. Beide Familien waren von meiner Mutter sorgfältig ausgewählt worden, um mir ein kindgerechtes, förderndes Umfeld zu bieten.

Iris von Roten

Iris von Roten gilt heute als feministische Ikone.

RDB

Iris von Roten, 1917 geborene Meyer, entstammt einer bürgerlichen Familie. Zu ihren Vorfahrinnen mütterlicherseits zählen die Frauenrechtlerinnen Hortensia Gugelberg von Moos und Meta von Salis-Marschlins. Sie ist familiär verbunden mit der «Schweizer Spiegel» Verlegerfamilie Guggenbühl-Huber. Der Publizist Adolf Guggenbühl ist Iris’ Lieblingsonkel. Von ihm fühlt sie sich ernst genommen und intellektuell beflügelt. Obwohl er es missbilligt, wenn Iris Hosen trägt, rät er ihr, als eine von wenigen Frauen in den 30er-Jahren, Rechtswissenschaften zu studieren.

Feministisch prägend ist für Iris von Roten bereits die Grundschule: «Die unerhörte Anwendung von zweierlei Mass hat mir sofort und in ihrer ganzen Tragweite eingeleuchtet.» Lebenslust und Wissensdurst nähren ihren Kampfgeist. Sie beneidet den Mann um dessen Entfaltungsmöglichkeiten und Unabhängigkeit und wehrt sich dagegen, dass weibliches Potenzial – nicht nur ihres – am Herd verkümmert.

«Ich habe Angst, dass die Sache fast zu revolutionär ist, um gemacht zu werden»

Iris von Roten in einem Brief an ihren Mann

Vor der Hochzeit mit dem Walliser Juristen und Grossrat (später Nationalrat) Peter von Roten lässt sich Iris 1946 per Ehevertrag von der Pflicht zur Hausarbeit entbinden. Nach der Geburt von Hortensia 1952 bleibt sie berufstätig und feilt während Jahren an ihrem Buch, dessen Sprengkraft ihr bewusst ist. «Ich habe Angst, dass die Sache fast zu revolutionär ist, um gemacht zu werden», schreibt sie in einem Brief an ihren Mann.

Iris von Roten behält recht. Als «Frauen im Laufgitter» 1958 erscheint, entfacht es nicht den gewünschten Dialog, sondern bringt der Autorin nichts als Häme ein. «Das Buch war in aller Munde. Mein Bruder zeichnete in der Schule sogar ein Bild von Frauen, die in einem Laufgitter stehen», erinnert sich Elisabeth Joris, Expertin für Frauengeschichte und ehemaliges Nachbarmädchen der Anwaltskanzlei von Roten in Visp. «Die Kritik war polemisch. Es gab kaum inhaltliche Reaktionen. Dabei hat das Werk grossen aufklärerischen Wert, da es mit scharfem analytischem Blick die Selbstherrlichkeit der Männerwelt entlarvt. Es ist bis heute feministische Pflichtlektüre.»

So erlebte Hortensia von Roten ihre Mutter als Kind

Die Publikation des Buchs fällt mit Hortensias Schuleintritt in Basel zusammen. Jemand sprayt das Wort «Hure» an ihr Haus. Die Fasnächtler verunglimpfen Iris von Roten als Witzfigur.

Hortensia von Roten, wann haben Sie bemerkt, dass Ihre Mutter aneckt?
Ein Gefühl dafür entwickelte ich sehr früh. Ich lebte einen Konflikt: Innerlich spürte ich immer, dass Iris recht hat, gegen aussen zeigte ich das aber nicht immer.

Wie haben Sie als Kind Ihr Familienleben wahrgenommen?
Unsere Familie war emotional, aber nicht gefühlsduselig. Wir waren drei Individualisten, alle dauernd am Denken und Reden und Schreiben. Wenn ich Schlittschuh laufen wollte, brachte man mich zum Eisfeld und holte mich am Abend wieder ab. In der Zwischenzeit war ich auf mich allein gestellt. Aber die Abendessen nahmen wir zu dritt ein. Sie waren stets ein Ereignis: gutes Essen und Gespräche über das Tagesgeschehen, Nachrichten, Ausstellungen und Bücher. Iris war keine einfache Person. Man geriet mit ihr oft in Streit und zog dabei nicht selten den Kürzeren, weil sie geistreich, belesen und witzig war.

Hortensia von Roten, Tochter von Iris von Roten, Schweizer Frauenrechtlerin, 50 Jahre Frauenstimmrecht, 25. Januar 2021, Zürich

Hortensia von Roten ist nach ihrer Vorfahrin, der Feministin Hortensia Gugelberg von Moos benannt.

Fabienne Bühler

Hat Ihnen die Fürsorge gefehlt?
Was versteht man unter Fürsorge? Liebe und Wärme? Iris war weder bequem noch kuschelig. Sie hatte ein sachlich-liebendes Verhältnis im Umgang mit einem Kind und hat mich von klein auf als gleichwertiges Individuum betrachtet sowie meine Eigenständigkeit respektiert. Und sie hat sich mir gegenüber in jeder Hinsicht stets sehr loyal verhalten.

War Ihr Vater gefühlvoller?
Mein Vater war ein umschwärmter Charmeur. Man musste ihn einfach gernhaben.

Das Ehepaar von Roten erfindet die Ehe neu

Das Ehepaar lebt bereits vor der Geburt von Hortensia eine offene Sexualität. Iris von Roten, im Wallis als «Kuh, die in ihrem Stall bleiben und sich melken lassen soll» beschimpft, nimmt sich die Freiheit heraus, ihre Reise- und Wissenslust in Amerika zu stillen und für ihr Buch die freie Liebe zu erkunden. Ihren Mann hält sie in Briefen darüber auf dem Laufenden.

Er wiederum, der einer erzkatholischen Patrizierfamilie entstammt, in der Feminismus als Teufelszeug gilt und Erotik tabu ist, traut sich, ermuntert durch seine Frau, seine Sexualität neu zu erkunden. In Briefen unterrichtet er sein «liebes Iris» über seine Affären. Der Briefwechsel schleift Peter von Rotens Profil als Feminist. Seine Gegner bevorzugen die Bezeichnung «Frauenknecht». Über die Jahre tauscht das Ehepaar Hunderte Briefe aus – Grundlage für das Buch «Verliebte Feinde» von Wilfried Meichtry sowie den gleichnamigen Film.

Hortensia von Roten, haben Sie die offene Beziehung Ihrer Eltern mitgekriegt?
Ich bemerkte die Bewunderung der Frauen für meinen Vater und erhielt manchmal Geschenke von einem guten Freund meiner Mutter. Aber das touchierte niemals unser Heim. Meine Eltern haben unsere Einheit gut bewahrt. Und Kinder interessieren sich sowieso nicht für die Sexualität ihrer Eltern.

«Iris sagte mir schon als Dreijährige, ich müsse mich niemandem auf den Schoss setzen oder gar Küsse verteilen.»

Ihre Mutter traute sich, in der Ehe wie in der Mutterschaft neue Wege zu gehen. Zeigten die sich auch in Ihrer Erziehung?
Meine Bildung war meiner Mutter das Wichtigste. Das galt in vielen anderen Familien nur für die Söhne, die einmal das Geschäft übernehmen sollten. Ein Mädchen konnte ja immer noch heiraten, wenn es ein Studium oder eine Aufnahmeprüfung nicht schaffte.

Wuchsen Sie aufgeklärter auf als Ihre Freundinnen?
Meine Mutter hatte ein entspanntes Verhältnis zur Sexualität, auch zu Verhütungsmitteln. Bei meinen Freundinnen war das kein Thema. Verhütungsmittel waren des Teufels, weil Frau dann Sex haben könnte! Als ich 16 war, bat Iris eine befreundete Gynäkologin um die Pille für mich. Als die Ärztin ihr antwortete, dass auch Studenten keine «gebrauchten Mädchen» mögen, war dies das Ende der Freundschaft. Da war sie kompromisslos.

Wie reagieren Sie auf Sexismus?
Iris sagte mir schon als Dreijährige, ich müsse mich niemandem auf den Schoss setzen oder gar Küsse verteilen. Weder dem Onkel noch der Tante. Damit hat sie die Wurzeln gesetzt für meine körperliche Integrität – lange vor der Me-too- Bewegung. Wenn du als Kind mit diesem Selbstverständnis aufwächst, klopft dir keiner mehr einfach so auf den Po.

Empfanden Sie Druck, den feministischen Ansprüchen Ihrer Mutter zu genügen?
Das Einzige, was sie von mir verlangte, war die Matur. Bildung war für Iris als Schlüssel für ein finanziell unabhängiges Leben enorm wichtig.

Der Zürcher Strauhof widmet Iris von Roten und dem Buch «Frauen im Laufgitter» anlässlich des 50. Jubiläums des Frauenstimmrechts eine Ausstellung. Kernstück ist das Manuskript eines bislang unveröffentlichtes Kapitels über Kleidung.

Gerade am Thema Kleidung lasse sich die Vielschichtigkeit der Person Iris von Roten darstellen, sagt Brigitte Helbling von Mass&Fieber. «Da spricht, spottet und wettert jemand über das Thema Kleidung und Geschlecht, die bis ins Handwerkliche hinein sehr viel von Kleidung versteht. Warum wurde es wohl gestrichen? Eine Frage, die die Ausstellung nicht beantwortet ...»

Die Ausstellung dauert vom 2. März bis zum 30. Mai 2021.

Hortensia von Roten legt eine Vorzeigekarriere als berufstätige Mutter und Historikerin hin. Als 1992 ihre Tochter zur Welt kommt, stockt sie ihr Arbeitspensum von 50 auf 100 Prozent auf. «Mir war nie klar, weswegen man weniger arbeiten will, sobald ein Kind da ist. Schliesslich kostet das Leben mit Familie mehr.» Sie profitiert davon, dass sich Forderungen aus «Frauen im Laufgitter» nach und nach doch erfüllen: familienexterne Kinderbetreuung, mehr Frauen in Führungspositionen. Bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 2016 kuratiert Hortensia von Roten die Münzsammlung des Schweizerischen Landesmuseum mit prägendem Einfluss in der internationalen Numismatik.

Davon erfährt Iris von Roten nie. Die Geburt ihrer Enkeltochter erlebt sie nicht. Nach der schallenden Ohrfeige, die ihr Buch ihr eingebracht hat, zieht sie sich aus der Öffentlichkeit zurück, widmet sich Reisen und der Malerei. Als den Frauen am 7. Februar 1971 doch noch das Stimmrecht zugestanden wird, knallen im Hause von Roten in Basel keine Champagnerkorken. «‹Das war längst überfällig›, bemerkte meine Mutter trocken.»

Am 11. September 1990 bestimmt Iris von Roten, dass ihr Leben nun gelebt sei. Sie greift zum Strick und tut einen letzten selbstbestimmten Akt. Peter von Roten schreibt über den Tod seiner geliebten Iris, er sei «ein Ausrufezeichen nach einem besonders tapferen Satz».

Sylvie Kempa
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Von Sylvie Kempa am 5. Februar 2021 - 07:09 Uhr